5. November 2013

Tabu (Miguel Gomes) 7,9



Wie es ab und zu so passiert, können die sehr hohen Erwartungen nicht ganz erfüllt und das extreme Lob in großen Teilen der cinephilen Szene nicht ganz nachvollzogen werden; der erste Teil des ungewöhnlichen Films ist edel gefilmt und okay, aber nicht das erhoffte cineastische Wunderwerk. Erst im zweiten Teil entfaltet sich eine besondere, meisterhafte Magie, Leidenschaft und tragische Liebe werden dem Kino angemessen eingefangen. Pech vielleicht, dass diese Geschichte in den über 100 Kinojahren halt auch schon oft erzählt wurde.

Natürlich kommt es eher auf das Wie an, aber die Form allein ist im Kino auch zu wenig. Der Film ist zwar deutlich besser (weil mit viel mehr eigener Vision, zum Beispiel dem subtilen Verarbeiten von Kolonialverbrechen) als die vorherige große Stummfilmära-Hommage The Artist, doch die Tatsache allein, dass jemand einen Film im Geiste des Stummfilms macht (und auf Murnaus gleichnamiges Werk verweist, der genaue Link dazu wurde mir nicht so bewusst), ist in meinen Augen noch kein Kriterium für „überragend“.

Vielmehr sind es einzelne Momente und das eigensinnige Arrangement der stummen Szenen mit Ton-Hintergrund, und auch der schöne Musik-Einsatz von Gomes, die dem Film eine ganz eigene, besondere Aura verleihen...sehenswert allemal, auch wenn sich weniger Festivalgeeichte mit der Langsamkeit schwer tun werden.

2. November 2013

Schulter an Schulter (Shaheen Dill-Riaz) 7,8




Shaheen Dill-Riaz ist durch seinen Hintergrund in der idealen Lage, für das deutschsprachige Publikum Innenansichten aus islamischen Ländern zu bringen. In KoranKinder war das so toll, dass mir dieser Film vor drei Jahren einer der liebsten war, und auch diese einstündige Fernseharbeit ist wieder sehr interessant anzusehen.

Es ist ein Porträt von zwei Soldaten, die auf den unterschiedlichen Seiten stehen, der deutsche und der afghanische. Es ist sehr spannend, den Leuten zuzuhören und Einblicke in den Alltag an der Front und zuhause mitzubekommen. Oft sogar belustigend, das Gefühl der Beklemmung verdrängend.

Der Deutsche, ein lieblicher Bär mit drolligem Akzent und scheinbar sehr sanftem Gemüt. Beiläufig, spät im Film, spricht er dann darüber, dass er für das Richtige tötet. Zuhause wartet seine Frau, die Diaz in berührenden Szenen einfängt.

1. November 2013

Dredd (Pete Travis) 8,2



Ein Remake von "Judge Dredd", das näher am düsteren Comic ist, so konnte man es vor dem Film aufschnappen. Nach einiger Zeit sieht man eher einen Zwilling zu "The Raid". Doch Dredd ist deutlich unterhaltsamer, weil es auf allen Ebenen passt: Die visuelle Umsetzung ist toll, der Soundtrack treibend gut, Darsteller und Dialoge einfach auf anderem Niveau als beim actionreicheren asiatischen Hochhaus-Kampf-Fest.

Karl Urbans Mundpartie zu begutachten alleine ist so herrlich; die trockenen Sprüche und (zumindest von mir auf ironische Weise genossenen) Gesetzeshüteraspekte lassen Dredd vor allem zu einem humorvollen Highlight werden. Härte und zumindest eine wirklich famose Actionszene (die Mega-Schießerei) gibt es auch. 

Die Slo-Mo Szenen sind an sich gar nicht so herausragend, aber wenn plötzlich hunderte Partikelchen dreidimensional durch den Saal schweben, weht auch ein genialer avantgardistischer Geist durchs Kino und durch diesen sehenswerten „Actionfilm“..

13. Oktober 2013

A Última Vez Que Vi Macau (João Pedro Rodrigues & João Rui Guerra da Mata) 8,25






Ein sperriger, düsterer Noir-Krimi (man sieht nie Gesichter wichtiger Figuren, von der Hauptfigur höchstens mal die Hand), zugleich ein faszinierendes Essay einer Stadt, mit Bildern von abgelegenen, interessanten Schauplätzen, Haustieren usw...

Rodrigues (dessen letzter „To die like a man“ mich nicht ganz so begeisterte wie einige andere) und da Mata schaffen hier etwas, was mich selbst überrascht. Denn der Film ist trotz äußerst prätentiöser Attitüde stets fesselnd und hoch sympathisch. Die Stadtbilder sind nicht so elendsfad wie (manchmal) Studien bei Emigholz oder Benning, auch wenn sie ähnlich still-standbildartigen Charakter haben.

Gegen Ende, wenn man schon müde ist, packen die beiden Filmemacher plötzlich eine hypnotische Bildfolge aus, düster und melancholisch bleibt die wehmütige Geschichte bis zum Schluss. Ich bin nicht in der Lage zu beschreiben, was genau den Reiz und die Schönheit dieser Arbeit (und auch jenen von Rodrigues gar nicht so unähnlichem Kurzfilm „Manhã de Santo António“) ausmacht..es bleibt jedenfalls zu träumen von einer Kinowelt, in der solch bezaubernde, eigensinnige Juwelen nicht einfach unbemerkt untergehen...

8. Oktober 2013

Dans la maison (Francois Ozon) 7,9



Surprisefilm der Viennale 2012. Plötzlich steht da: Ozon. Und man freut sich. Dann sieht es aber zunächst bloß nach sonstigem 08/15 Arthaus-Feelgood-Kino aus; bunt, mit Witzen über Lehrer und moderne Kunst.

Doch Ozon dreht ja durchgehend faszinierende Filme: hier eine beschwingte Metaerotikthrillerkomödie über Cliffhanger und Fortsetzungen: ein cleverer Schüler, der den gutmütigen Lehrer um den Finger wickelt; eine Geschichte in der Geschichte, die stilvoll und gekonnt fesselt.

Ozon, der Alleskönner mit Gefühl, inszeniert virtuos und oft atemberaubend, aber da ist schon auch immer der Gedanke, dass das alles etwas zu clever arrangiert ist. Die poetische Melancholie (wenn auch etwas glatt) und das wohlige Gefühl im Bauch sind aber stets so charmant eingeflochten, dass es nicht stört, von einer Art „Lehrfilm“ (über die Kraft der Geschichten) eingesponnen zu werden - nicht wenn es derart viel Spaß macht und 'so ziemlich alles verkörpert, was französischen Filmen oft so leicht von der Hand zu gehen scheint.'

10. September 2013

Leviathan (Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor) 9,4




Wahnsinn. Irre. Dynamisch. Archaisch. Kunstvoll. Genial. Endlich wieder mal ein Film, den man so noch nie gesehen hat. Die aufgequollenen Fischleichen, die mit der Kamera hin und her schwanken, gehören jetzt schon zu den verstörendsten und faszinierendsten Kinomomenten des 21. Jahrhunderts. Dazu diese Schlächter, die die Rochen auseinandernehmen, die Eingeweide, die Augen: "Leviathan" ist ein Horrorfilm. Auch.

Denn da gibt es auch noch diese Poesie, diese Farben, diese unmögliche, entfesselte Kamera, und die Möwen. Die paar Szenen mit den Menschen gegen Ende hat es vermutlich/hätte es nicht gebraucht - grundsätzlich ja okay, aber leider nehmen sie diesem Ungetüm von Film zum Schluss hin doch einiges an Intensität und hypnotischer Kraft. Reicht aber immer noch zur besten und zur überwältigendsten, mit Abstand außergewöhnlichsten Kinoerfahrung des (letzten) Jahres.

2. September 2013

Rückblick: Venedig 2003




Nach der Analyse des Cannes Jargangs 2003 bieten diesmal die 70. Filmfestspiele von Venedig den Anlaß sich anzusehen, wie denn die Wettbewerbsfilme von vor 10 Jahren im deutsch- und englischsprachigen Raum vermarktet wurden.

Zur Qualität dieses Wettbewerbs kann ich keine besonderen Aussagen tätigen, aber man scheint im Vergleich mit Cannes 2003 schon deutlich zu spüren, dass in Venedig weniger Prestigereiches lief...(ich meine, dass sich das in den letzten Jahren etwas geändert hat, aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich das Festivalgeschehen mittlerweile deutlich mehr verfolge als früher)

Von 20 Wettbewerbsfilmen waren jedenfalls in Österreich nur vier im Kino zu sehen (und die vermutlich auch eher nur in Wien bzw. im Programmkinobetrieb).
Vier weiteren wurden immerhin eine DVD Veröffentlichung spendiert.
Mehr als die Hälfte allerdings wurde im deutschsprachigen Raum nicht vermarktet – egal wie mager diese Filme auch theoretisch sein mögen, ist das wieder einmal als Armutszeugnis einer Filmkultur zu lesen.

In England und vor allem den USA sieht es wie immer viel besser aus: sieben weitere Wettbewerbsfilme kann man sich (von) dort auch für zu Hause zulegen.

Fünf Filme schafften es nicht "über die Grenze" und liegen, soweit ich es recherchieren konnte, nur im eigenen Land vor.
Drei Filme, bezeichnenderweise zwei davon aus Frankreich, sind nicht mit englischen Untertiteln verfügbar. Möchte man alle Wettbewerbsfilme von damals sehen, bleibt einem also anscheinend nur, französisch und italienisch zu sprechen bzw. zu lernen.

Ob einige dieser Filme abseits einer Festival-Premiere zu wenig zu bieten haben, oder aber ob "der Markt" für möglicherweise "sperrige Kunstfilme" keinen Platz bietet, sei dahingestellt. Ich jedenfalls wäre sehr neugierig auf die betroffenen Werke von Jacques Doillon, Noémie Lvovsky und Edoardo Winspeare...


Hier die 20 Filme im Überblick:


Kinoauswertung Österreich

  • 21 Grams (Alejandro Gonzaléz Innaritu)
  • Buongiorno, notte (Marco Bellochio)
  • Rosenstraße (Margarethe von Trotta)
  • Zatoichi (Takeshi Kitano)


DVD-Auswertung deutschsprachig

  • Twentynine Palms (Bruno Dumont)
  • Code 46 (Michael Winterbottom)
  • Imagining Argentina (Christopher Hampton) "Verschleppt"
  • "The Return – Die Rückkehr" (Andrej Swjaginzew)


DVD-Auswertung englischsprachig

  • Alila (Amos Gitai)
  • "Goodbye, Dragon Inn" (Tsai Ming-Liang)
  • Le Cerf-volant - "The Kite" (Randa Chahal Sabag)
  • Um filme falado - "a talking picture" (Manoel de Oliveira)
  • "The floating landscape" (Lai Miu-Suet)
  • Pornografia (Jan Jakub Kolski)
  • "Loving Glances" (Srdjan Karanovic)


DVD nur im Heimatland erhältlich, aber mit englischen UT

  • Baramnan gajok (Im Sang-Soo) (2008 auch auf arte gesendet)
  • Segreto di stato (Paolo Benvenuti)


DVD nur im Heimatland, ohne englische UT

  • Raja (Jacques Doillon)
  • Les Sentiments (Noémie Lvovsky)
  • Il miracolo (Edoardo Winspeare) – diesen Film gibt es aber immerhin mittlerweile in einer DVD Box zum italienischen Kino 2004-2011 (8 Jahre nach Venedig 03!) mit englischen Untertiteln.


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Persönliches Fazit:

Nur vier Filme aus diesem Venedig Jahrgang scheinen mir großartig bzw. auch im kollektiven (cinephilen) Gedächtnis gespeichert: 21 Grams und der "Gewinner" The Return sind kraftvolle, visionäre Werke, Twentynine Palms auch (sicher sehr umstrittenes, aber) eindrucksvolles Kino. Und Goodbye, Dragon Inn von Tsai Ming-Liang hat sich ja im letzten Jahrzehnt einen enormen Kultstatus erarbeitet. Muß ich endlich mal sehen.

"Zatoichi" war sehr nett, "Um filme falado" ebenso, wenn auch etwas zäh.



Zu den anderen 14 Filmen kann ich nichts sagen...Bellochio und Winterbottom interessieren mich am meisten...vielleicht kann ja eine/r der LeserInnen und auf diesen Eintrag Stoßenden etwas ergänzen?