30. September 2010

Frozen (Adam Green) 7,00




Wer selbst Ski fährt, stellt sich nach vielen Liftfahrten irgendwann einmal diese Frage: Wenn der Sessel-Lift mal stehenbleibt und es ist keiner mehr da, um ihn wieder in Gang zu bringen, was würde ich tun?

Springen? Versuchen, zur nächsten Säule zu hanteln? Oder einfach in der Eiseskälte warten und auf Hilfe hoffen?

Eigentlich erstaunlich, dass es zu diesem Thema erst jetzt einen Film gibt, aber schön, dass er endlich da ist. Allerdings hat so ein Werk, verwandt mit dem quasi perfekten Open Water, natürlich auch ein Problem: Wie soll man aus so einer extrem simplen Situation einen spannenden und nicht allzu eintönigen Film kreieren? Bzw. ist nicht gerade das Eintönige und das Verzichten auf zuviele übertriebene Gimmicks das Wichtige und gar das Entscheidende daran?

Open Water machte damals fast alles richtig…das ungewisse Herumtreiben im Meer in den höchstwahrscheinlichen Tod war extrem beklemmend umgesetzt. Vor allem war die Ursache der misslichen Lage noch glaubwürdiger als bei dem schon auch etwas dümmlichen Frozen, womit wir gleich beim ersten Problem des vorliegenden Thrillers wären: Das Drehbuch bzw. die 3 Charaktere: Ohne Bedenken nochmal eine Bergfahrt anzutreten, obwohl es schon finster ist und man weiß, dass der Lift danach 5 Tage lang schließt, ist schon eine harte Nummer. Dabei sind die Mittzwanziger nicht mal angetrunken. Aber gut, wie heisst es so schön im Fussball: Ohne Fehler keine Tore. Und so ähnlich kann man es ja auch traditionell beim (Horror-)Film sagen: Ohne Fehler keine haarsträubenden Situationen, wie diese, welche natürlich, einmal eingetroffen, enorm reizvoll ist. Der Hauptgrund auch, warum Frozen eben doch Spaß macht.

Die Aspekte, die den Film eher nervig und mager gestalten, nämlich das Verhalten und die viel Zeit einnehmenden, öden Gespräche der Festsitzenden, scheinen demnach gegenüber den vergleichsweise wenigen spannenden Situationen, in denen dann auch mal „etwas passiert“, fast unbedeutend. Adam Green (nein, nicht der Musiker!) mag kein begnadeter Thrillermacher sein, seine Schauspieler bieder, aber das Thema des Films ist so interessant, dass man ohnehin kaum etwas falsch machen, den Reiz dieser perfiden Situation gar nicht zerstören kann.

Selbst wenn Vieles eher zum Lachen bzw. Belächeln ist, man bleibt gespannt. Man kann hier auch sicher Einiges bemängeln, aber Green ist es zugute zu halten, dass er den Ball relativ flach hält und die simple Situation nicht irgendwie völlig überzogen aufplustert oder für große Aufreger ausbeutet. Frozen ist ein „kleiner Film“, der auch nie die enorme Intensität oder die Authentizität von Werken wie Open Water oder auch The Blair Witch Project erreicht, aber eben einer, den man aufgrund der verzwickten Lage stets interessiert verfolgt, bis zum Ende. Wie das dann genau abläuft, bzw. wer nun stirbt und wer überlebt, scheint in diesem Fall, bei solch platten und wenig Empathie erweckenden Charakteren, ja gar nicht so wichtig. Der unbewegte Skilift, die heftige Höhe und die unerbittliche Natur sind hier die Stars und das Faszinosum.

28. September 2010

Samâ wôzu (Mamoru Hosoda) 7,10




Dieser Animé stellt alte japanische (Familien-)Traditionen und mögliche Zukunftsentwicklungen, nämlich das “Second Life” in einer gigantischen Internetplattform namens OZ gegenüber. Ein junger Mann, Mathegenie, wird unter einem Vorwand von einer Freundin gebeten, sie zum Geburtstag ihrer Oma zu begleiten (ihr Plan: ihn als zukünftigen Ehemann vorzustellen!), und während der schüchterne Junge dort in die Familientroubles gerät (welche übrigens selbst für japanische Verhältnisse leider ziemlich nervig ausfallen), knackt er irrtümlich den Sicherheitscode von OZ, indem er es für ein per Handy versandtes Matherätsel hält. Nun dringt eine künstliche Intelligenz in OZ ein und stürzt auch die reale Welt ins Chaos, später sogar viele in Todesgefahr…

Bemerkenswert an diesem Film, der seine Geschichte (leider?) relativ naiv, aber deshalb nicht gänzlich un-beklemmend erzählt, ist die flotte Darstellung der künstlichen Welt und der Kontrast zum realen Leben im Grünen. Das Hin- und Herspringen zwischen den 2 Universen ist gut gelungen, auch wenn die Darstellung der Familie, die mit (schüchternen) Heldentypen gespickt ist, wie gesagt eher nervt und auch deren Heroisierung und selbst übernommene Verantwortung etwas platt wirkt. (Auch wenn der Vergleich jetzt doch ein bißchen querbeet ist, aber die schräge Familie und ihr Kampf gegen eine Bedrohung in The Host war um vieles gelungener.)

So scheint es gar mehr als utopisch, dass sogar das gefürchtete Drücken auf den „roten Knopf“ eines Präsidenten über diese Cyberplattform gesteuert wird, aber gut, wir befinden uns hier ja schließlich in einem Sci-Fi-Animé (und in einer sich fast schon mehr an der Gegenwart orientierenden Semi-Utopie, was den Film trotz Schwächen stets faszinierend hält).

Das Tollste am Film eigentlich: das Zocken um Leben wird wie ein sportliches Ereignis inszeniert und von den Charakteren gelebt und erlebt; Beat 'em Up-Szenen im Kino, das macht durchaus Spaß (weil sich eben nicht das gesamte Werk darum dreht, wie bei diversen schrecklichen Videospielverfilmungen). Wie die Familienmitglieder diese Kämpfe gefesselt mitverfolgen, das überträgt sich auch auf den Zuschauer, man fiebert gerade gegen Ende schon gehörig mit.

Doch wie schon Hosodas letzter Film Das Mädchen, das durch die Zeit sprang ist auch Summer Wars streckenweise ein wenig zu naiv oder gar anstrengend (im Sinne von Geschreie) geraten, auch wenn das mit einem Humor unterlegt ist, der das schon wieder sympathisch macht. Und wieder geht es auch hier um pubertäre Unsicherheit, wenn auch im Vergleich zum Vorgänger mit etwas umgekehrten Geschlechterrollen; diesmal haben die Frauen das Heft in der Hand, während der junge Bursch mit Extremsymptomen der Schüchternheit zu kämpfen hat.

Beeindruckend an Summer Wars ist auch, wie die KI als finsterer Mega-Bösewicht, der aus Millionen von Avataren besteht, visualisiert wird. Und wenn dann beim Showdown um das Überleben im virtuellen Kasino Karten gespielt wird, ist das zugleich fesselnd und köstlich humorvoll.

27. September 2010

Valhalla Rising (Nicolas Winding Refn) 8,26




Brachial/archaisch/martialisch, hypnotisch/meditativ, (maximal-/)minimalistisch ist dieses in jeder Hinsicht gewaltige Werk, das harte Krieger (und einen kleinen Jungen) in kargen Bergen, in undurchdringlichem Nebel und schließlich am Fluß Richtung Hölle, meist mehr schweigend oder sinnierend als kämpfend, zeigt. Phasenweise lassen Refns Komponisten zu sprichwörtlichen Wahnsinns-Szenen gewaltige Drone-Stücke anschwellen (womit endlich auch einmal einer der beeindruckendsten zeitgenössischen Musikentwicklungen ein vernünftiger Film-Einsatz gewährt wird) und Mads Mikkelsen als unbesiegbarer Krieger, als Schweiger vor (auch für?) dem Herrn, sticht, hackt, bricht, schlägt und reisst(!!) seine Feinde zu Tode.

So faszinierend und wunderbar linientreu Refn seinen (in düster bezeichnete Teile eingeteilten) Film inszeniert hat, so bleibt nach dieser intensiven Erfahrung dann im Nachhinein doch etwas wenig hängen. Herzogs meisterhafter Aguirre, der Zorn Gottes schwebt da zudem im letzten Drittel als Pate so ein bisschen über Valhalla Rising und das Ende kann nicht restlos begeistern, wenngleich es jedoch immerhin zu (Be)Deutungs-Mutmaßungen über eine ironisch oder auch ernster gemeinte filmische 'Revanche' an Christen und ihrem Missionierungseifer bzw. umgekehrt zu einer Sympathisierung (bzw. möglicherweise auch einer etwas befremdlichen Heroisierung) mit den amerikanischen Ureinwohnern einlädt.

Was eine vollkommene filmische Himmelsfahrt eines gerade visuell und auditiv enorm beeindruckenden und daher sehr empfehlenswerten (Kino!-)Films dann aber doch verhindert, ist halt auch die Simplizität des Martialischen.

26. September 2010

Un si long voyage (Stéphanie Lamorre) 8,15




Dokumentarische, un-aufgemotzte Version von Sin Nombre (ohne Gangs). Ganz einfache Leute, im Fokus eine Familie aus Ecuador, beschreiten hier den langen Weg der Hoffnung, die beschwerliche Reise ins gelobte (mehr verdienen) Land USA. Zunächst bricht der pater familias auf, doch als er unterwegs recht bald erwischt wird und ihm Gefängnis droht, probiert es die Mutter (was scheinbar eher ungewöhnlich – und für die Kinder natürlich schrecklich - ist). Die Regisseurin Lamorre bleibt mit ihrer (versteckten?) Kamera stets hautnah dabei.

Diese quälend anstrengende und gefährliche Reise derart mitzuerleben, ist teilweise sehr intensiv, und am Ende des Films nimmt die Geschichte sozusagen eine überraschende Wendung; Denkprozesse über die Sinnhaftigkeit des Auswanderns, auch im Verhältnis zum Aufgeben des Familienglücks, werden bei den Protagonisten und den Zuschauern angeregt. Somit stellt diese Dokumentation nicht nur eine Verbindung zum angesprochenen, dramatisierten mexikanischen Kinoerfolg, sondern auch eine zur turbulenten kasachischen Wüstengeschichte Tulpan her: Jener Film liefert schließlich einen warmherzigen Gegenentwurf zur Flucht und gar ein Loblied auf die Einöde sowie das Leben in finanzieller Armut. Wie naiv oder weise dieser Ansatz sein mag, das steht zur Diskussion.

24. September 2010

Mary and Max (Adam Elliot) 8,32




Schon wieder so ein Film über Außenseiter, die sich anfreunden und schon wieder sind es ein älterer Mann und ein junges Mädchen (bzw. ein Kind). Das zunächst einmal Besondere an Mary und Max: sie sind Knetfiguren. Und absolut allein. Sie haben keine Liebsten, keine stützenden Familienmitglieder oder Freunde, also wohl das Schlimmste, was Menschen im Leben überhaupt passieren und sie zugrunde gehen lassen kann. Noch schlimmer, wenn man auch noch ernsthafte psychische Probleme bzw. eine Erkrankung hat. Das weckt natürlich beim Publikum Sympathien für diese armen Kreaturen, doch Elliot hat hier keinen simplen Tränendrücker, kein bewährte Pfade auslatschendes Drama, o.ä. gedreht. Er geht lieber, selbst ein wenig autistisch, den wunderbar eigenbrötlerischen Weg des unendlich Absurden, des schrägen und verspielten (Humors), er sucht und findet das Schöne im Häßlichen. Und, vielleicht das Allerschönste am Film, er lässt diese grotesk überspitzt, sonderlich und zutiefst humanistisch erzählte, nachwirkende Geschichte über Freundschaft ein Ende finden, das doch recht sad, aber auch ein bisschen happy zugleich ist.

16. September 2010

Moloch Tropical (Raoul Peck) 6,30




Der Film behandelt die letzten Stunden eines haitianischen Präsidenten (genauer gesagt, des Präsidenten Aristide, hier semi-anonymisiert) im Amt. Das Volk erhebt sich bereits, der einstige Heilsbringer (und Pfarrer!) hat kläglich versagt und Geld nur in die eigene Tasche gestopft, so hat es zumindest den Anschein. Mittlerweile ist er auf seiner Festung am Berg nur noch an Muschis von Bediensteten und Gästen interessiert und lässt einen kritischen Journalisten umbringen.

Raoul Peck, selbst Haitianer und dort auch Kulturminister gewesen, ist ein politisch engagierter Filmemacher: "Es gibt in Europa ein Desinteresse an Politik, an Dritter Welt, man will kein Elend mehr sehen.“, hat er einmal, anlässlich seines Films Lumumba, gesagt.

Doch mit dieser harmlosen, einfach unspektakulären Farce kann er nicht viel erreichen, kann er eigentlich auch nicht allzuviel vorgehabt haben. Die Vorfälle rund um den Niedergang des Präsidenten werden etwas satirisch wiedergegeben und 'menschlich-politische Kolleratalschäden' wie Korruption, Machtmissbrauch, usw., könnten immerhin jüngeren Zusehern die Augen öffnen, neu ist das alles natürlich nicht. Ansonsten gibt sich diese persönlich motivierte, aber recht flache Nacherzählung der Vorfälle im geliebten eigenen Land, fast emotionslos und liefert keine besonderen Erkenntnisse, auch filmisch und schauspielerisch ist das alles, bis auf wenige Ausnahmen, recht mager.

Pecks Film, durchaus verwandt mit Alexander Sokurovs Solntse über den japanischen Kaiser Hirohito oder auch Hirschbiegels umstrittenen Der Untergang, erreicht nie die beklemmende inszenatorische und schauspielerische Qualität des einen oder die Finsternis, zumindest die Diskursfähigkeit des anderen. Und als Satire über einen lateinamerikanischen Diktator ist mir dunkel Moon over Parador als deutlich peppiger und frecher in Erinnerung. Pecks neuestes Werk dagegen ist zwar nichts Negatives und mag sicher eine gewisse Bedeutung für gewisse Leute haben, Moloch Tropical ist aber selbst für politikinteressierte Europäer kein Film, den man unbedingt gesehen haben muß.

13. September 2010

Nothing Personal (Urszula Antoniak) 9,12




Filme, die beim Festival in Locarno ausgezeichnet werden und von Frauen(-schicksalen) erzählen – eine feine Kombination und mittlerweile bereits ein kleiner Trend. Nachdem diese Kriterien in den letzten Jahren schon die herausragenden Werke Das Fräulein und She, a Chinese erfüllt haben, reiht sich da nun auch mit Nothing Personal so eines dieser ganz besonders schönen und originalen Frauenporträts, die auch zum Besten zählen, was überhaupt im Kino läuft (oder nicht läuft), ein.

Antoniaks Film erfüllt die Leinwand zunächst mit gelungenen Aufnahmen dieser seltsamen, trotzigen und offenbar sehr verletzten Frau ohne Namen, die ganz allein durch die weite Ödnis Irlands trampt. Unterlegt von hypnotischen Klängen auf der Tonspur entwickelt sich ein Regiestil, der auch das Kino des 21. Jahrhunderts repräsentiert: Sofortige Versetzung des Zuschauers in medias res, nüchterne Bilder, Kamera ganz dicht dran an der Person, intensive Stimmung, wenige Worte…

Als die namenlose Heldin auf ein nur scheinbar verlassenes Haus stößt, entspinnt sich in weiterer Folge ein eigenwilliges Zwei Personen Stück, in dem es ständig knistert, Sex jedoch nicht unbedingt im Vordergrund steht - in gewisser Weise erinnert Nothing Personal mit dem zarten Bande knüpfen zwischen älterem Mann und junger Frau dadurch gar an Lost in Translation, wenn auch die Grundstimmung hier gewiss eine ganz andere, nämlich eine viel rauhere, ist.

Die namenlose Frau, die einfach nur „you“ genannt werden und keine Fragen zu ihrer Person hören will, ist ein ungemein faszinierender Charakter. Wenn sie sich, zunächst verschlossen, im Verlauf des Films (in durchaus überraschenden und überrumpelnden Szenen) immer wieder öffnet: tanzt, singt und lacht, dann kann man ahnen, was in diesem Mädchen eigentlich steckt und nur vermuten, was sie so traurig und einsam gemacht hat. Generell überrascht Antoniak immer wieder durch kleine Szenen, die so scheinbar gar nicht zu den Charakteren zu passen scheinen; durch lässigen Humor, der die zärtlich-melancholische bis teilweise unerträglich angespannte Stimmung geschickt durchsetzt.

Das faszinierende Wesen dieser Lotte Verbeek wird von der Filmemacherin eindrucksvoll in Szene gesetzt, Stephen Rea als überraschter, verwunderter, faszinierter und gleichzeitig so gelassener Gegenpart, ist ebenfalls ein Vergnügen.


Ob das Leben so eine Geschichte überhaupt schreiben könnte, wäre vermessen zu behaupten, aber es ist ja auch völlig egal, denn das Kino kann es sehr wohl! Nicht zuletzt ist Nothing Personal ein poetischer Film über den Unterschied zwischen einsam und alleine sein. Die Magie dieses subtilen Wunderwerks, das gerade in den letzten Minuten von einem guten zu einem hervorragenden zu mutieren vermag, scheint nach dem Abspann den ganzen Kinosaal ergriffen zu haben – ein traumhaft schöner und ungemein schön trauriger Film über eine Frau, die vom Leben verstört wurde und danach möglicherweise nicht etwas suchte (aber etwas findet!), das ihr den Glauben an das Schöne daran wieder geben kann; über eine Frau, deren Namen, deren ganze Geschichte und deren Zukunft wir nie erfahren (werden). Und auch diese Ungewissheit (selten war es so schwer zu verkraften, nach dem Ende nicht mehr über die Hauptperson zu erfahren), dieses Offenlassen macht unter anderem den enormen Reiz und diese Strahlkraft des wunderbaren Films aus.

8. September 2010

Die Besucherin (Lola Randl) 7,21




Sie ist müde, aber sie kann nicht schlafen. Sie ist fast immer im Bild, aber ihr Innenleben bleibt rätselhaft, ihre Wünsche verborgen. Ihr Zusammenleben mit Mann und Tochter ist nur noch eine leere Hülle ohne Emotionen.

Sie bekommt von der Schwester Schlüssel zu einer Wohnung, in der sie Blumen gießen soll. Dort stöbert sie rum und findet heraus, dass eine Frau gestorben ist und deren Mann, der dort (etwas seltamerweise) nicht mehr wohnt, diesen Schmerz gerade verarbeiten muß. Die tote Frau lässt sie nicht los und immer wieder will sie in die Wohnung, will mehr Details aus diesem Leben. Bis eines Tages der Witwer zur selben Zeit da ist und es zur Climax (des Films) kommt…

In dieser kurz angerissenen ersten Hälfte ist das auf ruhige Art in seinen Bann ziehende Psychodrama ganz toll. Sylvana Krappatsch spielt Agnes, deren Motive dem Beobachter stets unklar bleiben, enorm gefühlsreduziert und die Kamera heftet sich auf ihre Fersen, oder besser gesagt verliert sich in ihrem Gesicht. (Wobei erwähnt werden kann, dass Randl hier keinen absoluten Zugang mit Konzentration auf die Hauptperson wählt, was eine möglicherweise noch intensivere Wirkung erzielen hätte können.)

Leider kann die zweite Hälfte des Werks die unterschwellig beunruhigende und faszinierende Atmosphäre der ersten nicht mehr ganz halten. Sobald sich die Figuren öffnen, (was natürlich kein Kritikpunkt sein kann), geht nunmal dennoch etwas von dieser einmaligen Stimmung verloren und man hat gerade bei den beiden Männern, zwischen denen Agnes steht, auch ein-, zweimal das Gefühl, dass die schauspielerische Leistung etwas schwächelt oder die Charakterzeichnung nicht ideal gelungen ist..die Fokussierung auf die unterkühlt-charismatische Agnes ist hier sicher das größere Plus.

Die Besucherin ist letztlich ein vor allem in der ersten Hälfte beeindruckend stimmiger, aber auch ganzheitlich recht interessanter Film geworden, der ein differenziertes Szenario einer Familienkrise und einer sich in eine Extremsituation stürzende Frau entwirft, und dem bis zum angenehm tragikfreien Ende der Spagat zwischen unverbrauchter/eigenwilliger Geschichte, Atmosphäre, Spannung und realistischer Alltagstreuheit gut gelingt.

7. September 2010

Sin Nombre (Cary Joji Fukunaga) 8,11




Ein auf Festivals recht erfolgreicher, für ein “Indie-Produkt” (u.a. im lokalen Kino) auch sehr gut besuchter Film, der jedoch, und das kommt aufgrund des akzeptablen Zuspruchs nicht unüberraschend, alles andere als einfach oder gar angenehm konsumierbar ist.

Ganz im Gegenteil, die unfassbare Gewalt, die Ausweglosigkeit in Sin Nombre tut richtig weh, vor allem auch, weil sie und die Ausübenden dieser Gewalt nicht auf betont „cool“ getrimmt sind, wie es etwa bei dem auch im Mainstream angesagten südamerikanischen Film City of God oder diversen beliebten nordamerikanischen, europäischen oder asiatischen Gangsterstreifen oft der Fall ist. Der männliche Hauptdarsteller ist keine echte Sympathiefigur und darf auch nicht zu einem Helden werden; der junge Bursche, der auf so heftige Weise in den Film (und die Mara) eingeführt wird, darf sich nicht zu jemandem entwickeln, der aus der Gang-Hölle rauskommt oder zu jemandem, der im Laufe des Films unsere Sympathien gewinnt. Die Liebesgeschichte darf nicht positiv enden oder gar schnulzig werden – der Film ist konsequent und lässt sich nicht in ein Kassenerfolg-versprechendes Korsett zwängen.

Fukunaga hat hier ein (besonders im ersten Drittel) höchst unbequemes und dennoch sein Publikum nicht durch sich steigernde Extreme völlig verstörendes und vertreibendes, sondern in den Kinositz fesselndes Monstrum geschaffen, das nachhallt und aus einer lebensfeindlichen Umgebung unserer Welt erzählt, von dem man niemandem wünscht, dort hineingeboren zu werden oder dort sein Leben verbringen zu müssen. Selbst wenn Flucht die simpelste aller Optionen ist und keine Ideal-Lösung für Probleme sein kann, hofft man für die im mehrfachen Sinne armen Charaktere in diesem Fall, sie möge gelingen. Auch hinsichtlich all der brisanten Migrationsdebatten unserer Zeit bleibt durch diesen - Spannung mit Problembewusstsein verbindenden - Film vielleicht ja der eine oder andere Gedanke hängen.

6. September 2010

Die Piloten (Cordula Kablitz-Post) 8,08




Schlingensief war einer der größten Künstler, die je gelebt haben.“ und „Es kann keinen wie ihn mehr geben.“, sagt Elfriede Jelinek und dieser Frau kann eh keiner widersprechen. Eines der letzten Projekte des Tausendsassas und intelligent-provokativen Selbstinszenators mit seiner perfiden Kreuzung aus Lausbubencharme und den bitterbösen Attacken auf Gesellschaftsnormen und Konservatismus in seinen schlimmsten Formen; eine nie ausgestrahlte, gigantisch chaotische, improvisierte, herrlich sympathisch verschiedenste Menschen aufeinanderprallen lassende, damit groteske Aussagen und Situationen forcierende und dies alles als völlig „normal“ inszenierende TV-Talkshow mit dem Titel Die Piloten und einer Vielzahl an illustren Gästen von Hermann Nitsch über Sido bis zu Jürgen Fliege sowie einigen der von Schlingensief so großartig forcierten psychisch beeinträchtigten Schauspielern, hat Frau Kablitz-Post zu einem spannenden Mix aus Ausschnitten der „Sendung“ und Backstage-Doku verarbeitet.

Die vielen Facetten des Menschen und Künstlers Schlingensief, seine verrückten Seiten, aber auch seine ungekünstelt naiv-herzliche Art, können somit ganz gut erlebt werden, auch wenn natürlich die persönlichen Auftritte samt Anrufen beim sterbenden Vater wiederum selbst eine Inszenierung einer gnadenlos öffentlichen Person sind, die Schlingensief folgerichtig vor den Kameras dann reflektiert und hinterfragt.

Eine ganz besondere Künstlerpersönlichkeit ist vor kurzem von uns gegangen und ein Filmreport wie dieser, der Schlingensief noch vor seiner tödlichen Erkrankung als Mensch zeigt, der seine eigenen körperlichen Schwächen öffentlich diskutiert (und auch ihre existenzielle Bedeutung verhandelt und radikal verlächerlicht), fungiert einerseits als unmittelbares Zeugnis des Werkens und Schaffens, andererseits wirkt das Ansehens dieser Szenen nach seinem Tod ordentlich beklemmend.

Die Piloten mag nur eines von vielen Schlingensief-Projekten gewesen sein, und wahrscheinlich gar nicht zu seinen besten zählen, dennoch ist der Film dazu ein gelungener, ein faszinierender, ein selbstverständlich herrlich chaotischer Einblick, einer der letzten, in das Arbeiten und das Wesen dieses einzigartigen Irritators.

2. September 2010

Berliner Rand (Jens Becker) 8,00




Ausführliche Sozialreportage über 4 Berliner Jugendliche im Alter von 16 bis 21, zwischen Arbeits- und Obdachlosigkeit, der Hilfe von sozialen Einrichtungen, Ausbildung, Zukunftshoffnungen, Alltagstristesse, Drogenmissbrauch und Rückschlägen.

Becker beginnt seinen Film mit dem Hinweis, dass in Deutschland 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut leben. Ein Jahr lang hat der Filmemacher seine Hauptdarsteller Katja, Daniela, Kati und Volkmar Kevin begleitet, gefilmt und empathisch befragt. Er zeigt ihre mehr oder weniger intensiven Bemühungen, ihr hartes Leben zu meistern; die Rückschläge, aber auch die Lichtblicke und den (Zweck-)Optimismus, und liefert stellvertretend für ein riesiges gesellschaftliches, menschliches und soziales Problem Einblicke, die nur ganz selten sentimental geprägt sind. Am naturgemäß offenen, tristen Ende steht vor allem die Hoffnung.