24. April 2013

The Tall Man (Pascal Laugier) 5,6



Eine gute Stunde lang inszeniert Pascal "Martyrs" Laugier aufregend und atemberaubend eine Schaudergeschichte in einer düsteren amerikanisch-ländlichen Szenerie, die dem Setting des herausragenden Winter's Bone ähnelt.

Mit dem ersten (scheinbaren?) Twist und grenzgenial angelegten Assoziationseinladungen an Hostel (in weiterer Folge aber auch an Laugiers großartigen Vorgänger Martyrs) scheint der lange Zeit enorm packend inszenierte Film um mysteriöse Kindesentführungen durch eine monströs-menschliche Gestalt auf eine Horrorzielgerade einzubiegen, doch dann schlägt Laugier, auch Drehbuchautor, plötzlich irrwitzige Haken.

Das sehr eigenwillige Vorgehen ist im Kern gar nicht so ein übertriebenes Twist-o-Rama, sondern vielmehr scheint der Filmemacher selbst, ähnlich wie eine Figur im Film oder auch der Zuschauer mit seiner eigenen Orientierung zu kämpfen...will er sich vielleicht Schritt für Schritt vom Horrorfilm abwenden und mit seinem Kino "nur noch" sozialdramatisch nachdenken? Oder werden auch zukünftige Laugiers solch einen achterbahnartig-irrwitzigen Spagat zwischen Angst, Schrecken und nachdenklicher Botschaft schaffen wollen?

Es wäre übertrieben zu sagen, dass es fasziniert über Laugiers Ansinnen nachzudenken, denn sein Film verliert mit der Zeit seinen Drive, und setzt die grundlegend großartige Idee, den Horrorteil völlig zu beenden und in die Sozialnachdenklichkeit zu gehen, nicht ganz so großartig um..
Gegen Ende zieht sich alles gar wie ein bereits völlig den Geschmack verloren habender Kaugummi.

Man kann dennoch gespannt sein, wie es mit Laugier weitergeht. Seine Ideen und Motivationen mögen hervorragend sein, der Film ist es leider (im Gegensatz zu Martyrs) nicht, sondern in Summe auf ziemlich verrückte (durchaus erlebenswerte) Weise etwas banane.

18. April 2013

Tim and Eric's Billion Dollar Movie (Tim Heidecker & Eric Wareheim) 7,2



...krankt leider an den bereits bekannten Problemen, die Kinoumsetzungen subversiv-wahnwitziger TV-Formate immer haben.

Das Geniale an den Komikern und deren Inhalten wird in eine Rahmenhandlung und "schöne Bilder" gehüllt, die leider nur selten (zu selten) durch Einschübe wie die irren Präsentationen u.ä. aufgebrochen werden. Zudem zwingt der Gross Out Humor oft zum Mitlachen, ist aber natürlich nicht die wahre Qualität des Duos; da sind z.B. die homoerotischen, sensiblen Momente (inklusive genial subtiler Brechung) viel spannender und auch viel lustiger.

Dennoch ein absolutes Highlight of (Hochglanz-)filth: die irre Parallelmontage, als Eric Tim mittels Drogenassistenz seine Traumfrau ausspannt um mit ihr im Sexshop wüst zu verkehren, während der völlig benebelte Tim die unfassbare „Shrim“-Therapie erhält – flach und eklig, aber auch großes Kino!

Dieser Film geht (im positiven Sinne) viel zu weit, heißt es im Programmheft und das ist dann auch das Beste daran: ein Kind wird geopfert, Köpfe abgesäbelt, eine Eichel in Großaufnahme gepierct, usw...: diverse Tabus werden betont geschmacklos, herrlich direkt und verschmitzt verwurstet. Die Beziehung von Tim und Eric pendelt seltsam und verstörend undurchschaubar zwischen inniger Freundschaft und hinterlistigen Aktionen..

Nach South Park & Team America, Sacha Baron Cohen und co können Tim und Eric in ihrem Kinoabenteuer der subversiven „Zu weit geh“-Comedy kaum mehr etwas Neues hinzufügen: etwas, das sie mit ihrer Fernseh-Show vermutlich schon leisten konnten, denn zumindest die erste Folge erweckt ganz stark diesen Anschein und das enorme Potential der beiden Guerilla-Komiker.

Vor allem scheint jedoch das von mir verehrte elaborierte Nonsense-Kino von Adam McKay, Will Ferrell und John C. Reilly (Talladega Nights, Step Brothers) Vorbild zu sein, an deren rasenden und hochgenialen Irrsinn Tim and Eric's Billion Dollar Movie in Summe, trotz etlicher sehenswerter Momente, nie ganz heranreichen kann - obwohl ausgerechnet Reilly als todkranker, bluthustender "retard" die lustigste Figur des Films gibt.

8. April 2013

In film nist (Mojtaba Mirtahmasb & Jafar Panahi) 8,3


 
Dies ist kein Film. Dies ist vor allem ein wichtiges Statement. Jafar Panahi aus dem Iran hat ein gerichtliches Drehverbot, er ist jedoch getrieben, zum Filmen verdammt, und wenn es nur solche scheinbaren Alltagstrivialitäten wie die kunstvolle, unterschwelligen Suspense-erzeugende Fahrt mit dem Müll-Entsorger im Aufzug sind.

Dahinter steckt aber, und das macht wohl ein Genie aus, deutlich mehr: Das fast herzzereissende Nachspielen des eigenen Drehbuchs auf dem heimischen Teppich, die Anrufe von und nach draussen - mitten in der Unsicherheit über das Berufsverbot, Poesie mit dem Leguan: dieser reflexive, bitter ironische und todernste Nicht-Film ist in seiner Summe leichtfüßiges, wichtiges, bedeutendes, mutiges Kino geworden.

Am Ende nimmt der unterdrückte Künstler das I-Phone, Hauptsache mit irgendwas wird gefilmt...: Ein Monument für die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Menschen.

7. April 2013

Le roi de l'évasion (Alain Guiraudie) 8,75


Bei Phrasen wie skurriler Humor, eigenwilliger Stil usw. und Verweisen an das Kino von Jim Jarmusch oder auch eines Roy Andersson lässt sich noch längst nicht nachvollziehen, wie grenzgenial Alain Guiraudie diesen Film gestaltet hat. Sein (Anti?)Held ist ein übergewichtiger Homosexueller, der eine Affäre mit einem 16jährigen Mädchen hat - und das auch noch auf der Flucht vor dem erzürnten Vater und der Polizei - im Wald.

Hier werden tabubesetzte Themen, die in anderen Filmen möglicherweise subtiler oder weniger deutlich behandelt würden, den Zusehern mit sichtlichem Vergnügen offenherzig vor den Latz geknallt. Armand, der "Ausreißer" bzw. "König der Fluchten", ist in der zweiten Filmhälfte fast nur noch in knapper Unterhose unterwegs, sein gewaltiger Leib schwabbelt ununterbrochen durchs Bild, er liegt gewichtig auf der zarten minderjährigen Curly, doch das wirkt nie auch nur im Ansatz peinlich, und alle Kuriosität, die den Szenen innewohnt, ist nie so inszeniert, dass man sich über den bzw. die Charaktere lustig machen könnte.

In Kombination mit der höchst eigenwilligen Bildsprache und freiem Geist ist ein genuiner, köstlicher, wildromantischer Film entstanden, der auch viel Lust macht, das übrige Werk des (zumindest außerhalb Frankreichs) öffentlich kaum wahrgenommenen Guiraudie zu entdecken.