31. Dezember 2010

Cristóvão Colombo - O Enigma (Manoel de Oliveira) 3,35




Oliveira, der hier auch die gealterte Hauptperson selbst spielt, scheint diesmal vor allem von Nationalstolz und Entdeckergeist getrieben. Christoph Columbus - Das Rätsel ist ein Werk, das für Oliveira scheinbar große Bedeutung hat, für den Zuschauer ist die wie eine Ahnensuche anmutende, eine Lebensspanne umfassende Schnitzeljagd nach Hinweisen, ob Columbus nun Portugiese war oder nicht in etwa so interessant wie wenn ein Korn Reis von einem Schiff ins Meer fällt. Und die Frau des Besessenen kann einem fast leid tun. Gepaart mit Oliveiras üblichem langsamen Tempo, aber der Absenz jeglicher faszinierender Motive seiner anderen Spätwerke (etwa den Begierden zwischen Mann und Frau, existenziellen Dialogen, oder ähnlichem) ist das leider, ausgerechnet zum Ausklang in diesem Blog, die größte Schlaftablette des Filmjahres.

30. Dezember 2010

Charly (Isild Le Besco) 8,12




Diese minimalistische Jugend-Außenseiter-Studie erinnert mit der verwaschenen VHS-Alltagshäßlichkeit und an den Menschen klebender Kamera anfänglich einmal an Harmony Korine oder die Dardennes. Die ersten Minuten sind für den Einstieg etwas mühsam und man muß sich erstmal ziemlich ratlos in den Film hinein quälen. Doch schnell wird alles etwas klarer: Der junge Nicolas lebt auf einem Bauernhof, er kann schlecht lesen, killt die Zeit und haut schließlich ab.

Ans Meer will er, sagt er dem Anhalter, doch in Wirklichkeit hat er einfach nur einem Lehrer im Café zufällig ein Buch mit einer dieses Meer abbildende Postkarte geklaut. - und scheinbar keinen Plan. In einem Dorf am Arsch der Welt gabelt ihn in den kalten Morgenstunden ein junges Mädchen auf und nimmt ihn mit nach Hause – in einen abgefuckten Wohnwagen. Eine Art Freundschaft zwischen zwei sozial ziemlich unterentwickelten Jugendlichen mit schrägen Ticks entwickelt sich und schließlich wird Charly, so der Name des Mädchens, auch zu Nicolas' erstem Mal; eine kuriose Sexszene übrigens, die man so sicher noch nie gesehen hat. Ebenso wunderbare Momente: wenn beide aus einem Wedekind-Buch lesen und man das Gefühl hat, hier werden möglicherweise spielerisch echte traumatische Erfahrungen der Charaktere vorgetragen, von denen sie aber selber in diesen Augenblicken gar nicht wissen, dass sie in diesem Buch stehen. Wie auch immer das genau gemeint ist, beeindruckend und schön ist die Szene allemal.

Am Ende dann, wie üblich in solchen Streunerfilmen, das Meer, gefilmt aber in einer überraschenden Ego-Perspektive. Aber halt: das war eben noch nicht ganz das Ende. Le Besco fügt dem sentimantalen Stereotyp nämlich noch eine weitere Szene hinzu, die den Werdegang von Nicolas, sein Ausreißen von daheim, aus der Schule, aus einem halbwegs geregelten Leben und eigentlich den ganzen Film in ein komplett anderes Licht rückt – die Reise geht wieder zurück zu den Großeltern.

Charly, von der mehr als Schauspielerin denn als Filmemacherin beschäftigten Le Besco, ist ein intensiver Jugendfilm, ein in jeder Beziehung echtes Außenseiterdrama, sowohl was Charaktere als auch Produktion betrifft und somit ein enorm frisches und erfrischendes Werk.

27. Dezember 2010

Interludium - Ocelot, Sciamma, Dresen


Kirikou et la Sorcière
(Kiriku und die Zauberin) 7,10

Afrikanisches Märchen um ein sehr selbstbewusstes Baby/Kleinkind, das ein Dorf von der Unterjochung einer bösen Zauberin befreit.

Der kleine, heroische (Verzeihung:) Scheißer kann mit seiner Art etwas nerven, die Geschichte ist für einen Kinderfilm nicht unbrutal; Kreativität wird nicht entfesselt, sondern in wohligen kleinen Dosen abgelassen, sodass man auch als Erwachsener trotz Längen gerne dran bleibt.

Nach dem du musst den alten Weisen auf der Spitze des Berges finden-Part gibt es eine nette und hintersinnige Auflösung, was die Bosheit der männerverschlingenden Zauberin betrifft. Kiriku ist ein spezieller, manchmal etwas nerviger Kinderfilm, eine Mischung aus klassischer Erzählung und lokaler Charakteristik, die insgesamt doch recht nett und schön eigen ist.



Naissance des Pieuvres (Wasserlilien) 6,35

Eine Pubertätsgeschichte im Synchronschwimmerinnen-Milieu. Eine Außenseiterin, die sich in die Diva des Schwimmclubs verguckt. Dass diese zwar bei den Jungs sehr gefragt, bei anderen Mädchen aber eher als „Hure“ verschrien und daher auch nicht gerade beliebt ist, stellt die Basis für eine Freundschaft dar. Dann gibt es da auch noch ein drittes Mädchen, noch mehr Außenseiterin und die echte beste Freundin vom ersten Mädel.

Naissance ist ein subtil poetischer Film, der nichts Großartiges leistet, jedoch einen schönen Ton zwischen pubertären Begierden und Unsicherheiten trifft.



Wolke 9 (8,04)

Der als äußerst fähig und sensibel filmend bekannte Sozialdramen-Regisseur Andreas Dresen dreht einen Film über Liebe und Sex bei Senioren. Was auf dem Papier wie ein potentieller Jahreskrösus klingt, mag nicht solche Begeisterung hervorrufen wie sein sensationell wunderbarer Vorgänger Sommer vorm Balkon, ist aber ein tolles, vielleicht ein klein wenig hölzern gespieltes Drama um Sehnsüchte, unerklärliche Gefühle, bittere Enttäuschung und unerwartete Veränderungen im hohen Alter.

Am Ende, so schrieb Rajko Burchhardt sinngemäß, sei das Werk moralisch und konventionell, doch vielleicht kann man dies gar als Aufforderung Dresens an Kollegen weltweit auffassen, zu diesem mutigen Vorbild alternative Entwürfe zu ähnlichen Seniorenthemen zu drehen.

26. Dezember 2010

Lung Boonmee raleuk chat (Apichatpong Weerasethakul) 8,12




Onkel Boonmee liegt nach einer Nierenoperation zuhause am Land im Sterben. Passend zum Abschied tauchen seine verstorbene Frau und der ebenfalls verstorbene Sohn als Geister auf (sehr stimmungsvolle und gerdezu humorvolle, warme Szenen sind das...).

Dschungelgeister und ebenso Wiedergeburt sind zentrale Themen in Onkel Boonmee, der sich an seine früheren Leben erinnern kann (bzw. der sich an seine früheren Leben erinnert). Themen, die bereits in Apichatpongs vorhergehenden Filmen, etwa dem genial fiebrig-faszinierenden Tropical Malady und dem vielschichtigen Syndromes and a Century vorherrschten. Die Existenz dieser schönen Vorgänger mag auch ein Grund dafür sein, warum der preisgekrönte und von vielen Kritikern geradezu hymisch gefeierte Onkel Boonmee doch nicht so eine Offenbarung darstellt bzw. nicht diese Ausnahmestellung im Gegenwartskino einnehmen kann, wie man durch die Vorschußlorbeeren vielleicht erwartet hätte. Es ist ein weiterer toller Schritt in AW's Schaffen, der Film ist schön, er ist faszinerend, manchmal witzig-überraschend, völlig ungebunden, aber das alles sind eben Qualitäten, die man von Weerasethakul schon kennt und seit Jahren schätzt. Vielleicht ist dies nicht sein aufregendster, aber tatsächlich sein reifster, massenkompatibelster Film, (was übrigens eine Parallele zum Gewinner der Goldenen Palme des Vorjahres bzw. dessen Schöpfers ersichtlich werden lässt).

25. Dezember 2010

A Letter to Uncle Boonmee (Apichatpong Weerasethakul) 5,14




Ein filmischer Brief, eine Vorstudie zum Hauptfilm Onkel Boonmee... im Rahmen des Primitive Project. Langsam bewegt sich die Kamera entlang, in Häusern, an Häusern, in den Himmel blickend, etc. Ein wenig Tiefe ergibt sich durch das Erinnern an Bewohner des Dorfes, die von Soldaten teils erschossen und teils verjagt wurden. Leider mutet der Film aber eher gekünstelt als kunstvoll an. 18 entschleunigte, wenig aufregende Minuten mit bekannten Weerasethakul-Motiven und Merkmalen - ein für das Publikum wenig gehaltvoller, kaum sehenswerter Kurzfilm.

24. Dezember 2010

Happy Christmas: The Magic Dozen (+1)

oder der knapp gescheiterte Versuch einer persönlichen All Time Top 10


2001 – A Space Odyssey
Alien
The Holy Mountain
Full Metal Jacket
Import Export
The Silence of the Lambs
The Terminator
Sommer vorm Balkon
Mulholland Dr.
Requiem for a Dream
The Fellowship of the Ring
Songs from the second Floor

&

Six Feet Under

23. Dezember 2010

Loos Ornamental (Heinz Emigholz) 5,54




Der vor kurzem gesehene Goff in der Wüste von Emigholz war (überraschend) eine nicht durchgehend, aber insgesamt schon beeindruckende Erfahrung (auch dank des feinen Audiokommentars). Emigholz hat danach auch weitere Filme des selben Prinzips gedreht, etwa Schindlers Häuser und hier eben einen über jene von Adolf Loos. Wiederum: „Architektur als Autobiographie“. Dass Loos Ornamental trotz erheblich kürzerer Laufzeit im Vergleich zu Goff wesentlich weniger aufregend und langatmiger ist, könnte vor allem an den gezeigten Bauten liegen, die sich im Vergleich zu den spannenden Goff-Sachen gewöhnlicher darstellen, aber natürlich auch daran, dass die Faszination für einen solch speziellen Film beim zweiten Mal etwas schwindet. Letztlich fallen die Häuser von Loos, mit Ausnahme des am Plakat sichtbaren, aber meistens in die Kategorie: tja, mhmh, usw... Dieses Werk dürfte daher nur Hardcore-Architektophilen Sehvergnügen bereiten.

21. Dezember 2010

Deutschland 09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation 6,43




Ein Live-Blog Versuch


Erster Tag (Angela Schanelec): Ein ganz stiller Auftakt: es scheint so, als wolle Schanelec den Omnibus-Film wie einen Tag (in Deutschland) ruhig erwachen und im Anschluß an ihren Teil erst beginnen lassen und endet mit einem Zitat, dessen Bedeutung auf Anhieb wenig fassbar ist. 5,5

Joshua (Dani Levy): ein weirdes Teil, wie ein Traum: Zunächst die dämliche Frage „Beschreiben Sie Deutschland in einem Satz“ an Passanten; danach der Regisseur bei einem (höchst eigenartigen) Psychiater, der Levy ein Mittel mit einem Wirkstoff namens Paragermanin verschreibt. Nach der Einnahme sind alle auf der Strasse fröhlich, feiern und tanzen (wäre das besser?). Levys Sohn, Joshua, fliegt dann weg und landet auf der Bundeskanzlerin! Das Mittel hat nachgelassen, ernste Polizisten werden gezeigt. Nach der neuerlichen Einnahme des Mittels sind sie locker und dann kommt eine sehr schräge Passage mit Terroristen, die unbehelligt ihre Anschläge planen (was will Levy eigentlich sagen?). Am Ende sitzt Merkel beim Psychiater und es fällt ein logischer Satz. 6,3

Der Name Murat Kurnaz (Fatih Akin): Interview mit einem Ex-Häftling aus Guantanamo, der den heutigen Außenminister Deutschlands anklagt, ihm nicht geholfen zu haben…so lala. 6,5

Die Unvollendete (Nicolette Krebitz): Ein junges Mädchen in einer leerstehenden Wohnung; es betreten ebenfalls: Susan Sontag und Ulrike Meinhof zu einem Blabla Jam mit dem zeitgenössischen, gefühlsgeleiteten, wenig intellektuellen Mädchen. Es geht um Politisches, Soziales, um Frauenthemen und endet mit einem nichtssagenden, eher dämlichen Satz. Schwacher Beitrag 3,6

Schieflage (Sylke Enders): Eine Einrichtung für Kinder von armen/verwahrlosten Eltern, wo sie ein Essen bekommen und nachmittags betreut werden. Der Betreuer wird zu einem TV-Interview gebeten und versucht, argumentativ zu erklären, bevor er zu dem Schluß kommt, dass dies Schwachsinn sei (die Dinge sind doch viel komplexer!) und nur noch einsilbige Antworten gibt. Die Reporterin vermisst danach ihr Portemonnaie, sofort wird der junge Jo, ein „Problemkind“ als Täter ausgemacht und verfolgt. Am Ende hatte die Reporterin das Portemonnaie nur im Auto liegen lassen – eine wenig überzeugende Schlusspointe, auch hinsichtlich ihrer scheinbaren Intention. Ein Kurzfilm mit einem gewissen Gespür für eine soziale Realität und einer tollen Szene, aber letztlich auch gerade wegen des Endes nicht überzeugend. 5,8

Der Weg, den wir nicht zusammen gehen (Dominik Graf & Martin Gressmann):
Ein Essay, zunächst über Architektur, in Form von alten, „abbruchreifen“, verlassenen Häusern in Deutschland, dann wird über den Bau eines neuen Bahnhofs in Berlin versucht die Brücke zur deutschen „Volksseele“ zu schlagen. Das ist teils interessant, teils erhellend, teils auch etwas doof in seiner Argumentation. 6,2

Fraktur (Hans Steinbichler): Satirischer Kommentar zur Abschaffung der Frakturschrift in der FAZ und einem LKW-Logistik-Boss als Stereotyp des reaktionären, kompromisslosen Kulturbewahrers. Naja. 6,25

Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten (Isabelle Stever): Mulitkulti-Schulklasse hält ein ruhiges Treffen ab: Diskussionskultur wird gezeigt und damit beworben; eine Idealvorstellung, ein schönes Role-model, das aber zugleich recht klinisch wirkt. 6,7

Gefährder (Hans Weingartner): Nach realen Ereignissen wird die Geschichte eines engagierten, linken Professors erzählt, der als „Gefährder“, als eine Person, die dringend verdächtigt wird, terroristisch aktiv zu sein, überwacht und verhaftet wird: das ist scheinbar aber recht einseitig überhöht geschildert, dennoch ein Kommentar zum hochaktuellen Spannungsfeld aus Terroangst und Legitimation eines Überwachungsstaats; damit trifft Weingartner auf jeden Fall den Nerv der Zeit und sein Film scheint noch mit am besten in dieses Projekt zu passen. 7,5

Feierlich reist (Tom Tykwer): Der moderne Businessman, dauernd auf Achse, bzw. im Flieger, Tykwer schneidet schnell und zeigt einen Benno Führmann in Einkaufsstrassen, immer wieder rennt er zum Starbucks, etc. Eine Art oberflächliche Kurzversion von Up in the Air, manche Elemente wie bei American Psycho. Die Schlusspointe: naja. 6,5

Ramses (Romuald Karmakar): ein alter Puffbesitzer plaudert ungeniert aus dem Nähkästchen: fast ein bisschen Seidl-esk, die beste Episode. 8,0

Krankes Haus (Wolfgang Becker): Klinik Deutschland? Patient Deutschland! Aktuelle Probleme werden als Sozialinfarkt bezeichnet, Anträge und Anrufe ignoriert..
Der Versuch einer Gesellschaftssatire: ganz nettes Konzept, wieder nah am „Thema“, vielleicht einen Tick zu platt, aber sehr lebendig und verspielt.
Am Ende stimmen alle in den Massengesang ein, Licht kommt ins Elend (vielleicht haben sie ja auch was vom Paragermanin erwischt). 7,4

Séance (Christoph Hochhäusler):
Hochhäusler erzählt eine Sci-Fi-Geschichte im La Jetée-Stil: intelligent, eigen, herausfordernd, melancholisch. 7,4

17. Dezember 2010

Wärst du lieber tot? (Christina Seeland) 8,70




Schwerstbehinderte Menschen. Ein Thema, das für die meisten sicher eines der schwierigsten und unangenehmsten ist, sei es im realen Umgang mit solchen Personen oder wenn es auch nur darum geht, sich einen Film mit ihnen und über sie anzusehen. Auch der Schreiber dieser Zeilen nimmt sich da gar nicht aus. Enorm bewundernswert sind daher andererseits Personen, die es sich gar zur Lebensaufgabe machen (oder zumindest einen gewichtigen Teil ihres Lebens damit verbringen), Behinderte zu pflegen, sich um sie zu kümmern, sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen.

Christina Seeland, die diesen wunderbaren Film auf die Beine gestellt hat, hat jahrelang in der Behinderten-Pflege gearbeitet. Diese Erfahrung ist natürlich bei so einem Thema Gold wert, denn so ein warmherziges, cleveres, flottes und unterhaltsames Werk hätte einem in dieser Hinsicht weniger erfahrenen Filmemacher kaum gelingen können.

Sechs auf ganz unterschiedliche Weise schwer beeinträchtigte Menschen spielen die Hauptrolle in dem erstaunlich schwung- und humorvollen, aber natürlich dennoch sehr respektvollen und nichts verharmlosenden oder verniedlichenden Film. Überraschende Ansichten der Porträtierten kommen zutage und es wird Lebensfreude vermittelt. Dass diese positiven Lebenseinstellungen, wie es im Film vielleicht ein bisschen(!) suggeriert wird, natürlich nicht auf der Tagesordnung stehen können, ist klar, doch gerade das Positive an einem derart extrem beeinträchtigten Leben wird ja oft ausgeklammert - ebenso wie das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis Schwerstbehinderter, das von oberflächlichen Medien, aber auch jedem selbst oft gar nicht wahrgenommen wird.

Ob dieses Erkenntnisgewinns und gleichzeitiger Lockerheit ist der dem Titel nach ja eher düster klingende Wärst du lieber tot? ein großartiger, vermutlich vom Thema den Otto-Normal-Unterhaltungs-Gucker erstmal abschreckender, aber sehr schöner Film. Seeland versteht auch einiges davon, mit Musik und Montage zu arbeiten, und es ist schon ein kleines Wunder, einen absolut ernsthaften und authentischen Behindertenfilm zugleich so gewitzt zu gestalten.

16. Dezember 2010

In dir muss brennen (Katharina Pethke) 6,22




Die heutige Gesellschaft ist mehr als früher von Stress und resultierenden Folgen wie Burn-Out geprägt. Ebenso gibt es so viele Motivationscoachings, Seminare, (alternative) Therapien wie nie zuvor. Dabei ist es, für Hilfesuchende ebenso wie für Fachleute, oft schwierig zwischen selbstgefälliger Geldmacherei und sinnvollen Behandlungen unterscheiden zu können (so auch etwa im Falle des oben abgebildeten Trainings). Dieser Dokumentarfilm zeigt einige der leicht schrägen Methoden live und beleuchtet, was durchaus sehenswert ist, die moderne Coaching-Kultur, leider in Summe eher assoziativ-beliebig denn kritisch-analytisch.

14. Dezember 2010

Interludium - Llosa, Nekes, Emigholz


Madeinusa 8,10

Ein Dorf am Ende der Welt - in den peruanischen Anden. Eine verschworene Gemeinschaft mit eigenen Gesetzen. Jeder Besucher ist hier ein Eindringling. Vor allem in der heiligen Zeit, wenn laut den Gläubigen Gott nicht sehen kann, was im Dorf getrieben wird. Der Bürgermeister freut sich deshalb schon, seine Tochter endlich entjungfern zu können. Doch dann kommt dieser Eindringling, ein antireaktionärer Reporter aus der Großstadt und wenig überraschend drängt sich die Liebe in all diese Trostlosigkeit und beschwört Lebensgefahr herauf...
Harter Stoff, filmisch sehr einfühlsam umgesetzt. Eigentlich besser als Llosas Folgewerk, der höher prämierte La Teta asustada. Madeinusa ist einnehmender, dringlicher, spannender.


Johnny Flash 6,45

Helge Schneider ist Johnny Flash, Andreas Kunze sein Manager. Helge Schneider ist Jürgen Potzkothen, Andreas Kunze seine Mutter. So könnte man das scheinbar ewig fortführen, denn beide spielen hier viele Rollen. Oder spielt nur Kunze mehrere, ich weiß es nicht, so schräg gehts hier zu. Vor allem ist Johnny Flash ein Musikfilm, Helge Schneider musiziert. Und alle blödeln. Das ist schon komisch, manchmal sogar höchst delirant inszeniert. Doch so ganz überzeugen kann diese Schrägheit (im Gegensatz zu einigen von Schneiders späteren Filmen) dann nicht, auf Dauer eher etwas anstrengend…


Goff in der Wüste 8,08

Heinz Emigholz filmt Architektur. Wie es heißt, ohne Kommentare. Nur Bilder von Häusern. Hier fast 2 Stunden lang. Kann man sich etwas Langweiligeres im Kino/Fernsehen vorstellen? Mit dieser Einstellung aber natürlich dennoch einer Portion Interesse war ich erstmal verwundert, dass Emigholz hier lebhaft über den Architekten Goff und über die Dreharbeiten spricht. Nach einiger Zeit schnalle ich dann, dass 3sat den Film im Zweikanalton mit Audiokommentar ausstrahlt. Und dass Emigholz sagt, wirken sollte man das lieber ohne Kommentar lassen. Hmm. Dabei ist der Film mit dem Kommentar echt spannend. Emigholz ist ein intelligenter, wortgewandter, humorvoller Mensch, dem man gerne zuhört. Und die Infos zu Goff auch höchst interessant. Doch wie ist das nun, ohne die Worte? Tatsächlich gar nicht so langweilig wie befürchtet, eine Sogwirkung stellt sich ein. Der Laie beginnt, Architektur wahrzunehmen. Sicher hat das Längen, aber die Konsequenz gefällt. Emigholz interessiert sich für diesen Goff und er filmt alle seine Bauwerke. Architektur als Autobiographie – ein großartiges Konzept. Eindrucksvolle Gebäude, eindrucksvolle Bilder, eindrucksvolle Art, einen Film zu machen. Auch ohne Worte.

13. Dezember 2010

Frauenzimmer (Saara Aila Waasner) 7,96




Porträt von drei Prostituierten zwischen 49 und 64 Jahren. Hauptsächlich wird das alltägliche, fast bürgerliche Leben der Frauen gezeigt, ihre spezielle Arbeit indessen nur dezent (aber schon eindringlich) angedeutet. Dieses Spannungsfeld zwischen verruchtem Geschäft und ganz normalem Alltag (mit oder ohne Partnerschaft) beleuchtend, gelingt der Regisseurin eine sehenswerte Doku über drei völlig unterschiedliche Frauen, die demselben unkonventionellen, mythenbehafteten Beruf nachgehen. Die Einblicke in die Biographien und Einstellungen und nicht zuletzt in die titelgebenden Lebensräume der Frauen sind (freilich auf die ruhige Art) spannender als viele geschriebene Thriller oder Dramen. Feinfühlig und leise erzählt, aber (nach-)wirkend, auch wegen einem noch nicht ausgelutschten Thema – hier ist alles da, was eine gute Dokumentation über besondere Menschen ausmacht.

9. Dezember 2010

Maria Larssons eviga ögonblick (Jan Troell) 7,61




Die dramatische Geschichte um die gutherzige und willensstarke Maria Larsson, ihre Schwierigkeiten im Zusammenleben mit ihrem Ehemann (einem impulsiven Alkoholiker, Ehebrecher und Schläger) und den vielen Kindern im Schweden am Ende des 19. Jahrhunderts mutet authentisch an und ist ein gefühlvoll erzähltes, auch leicht nostalgisches Arbeiterklassen-Familienepos. Die Leiden einer in einem überholten Rollenbild gefangenen Frau unter einem gewalttätigen Ehemann zu thematisieren ist in der Kunst nicht besonders neu, doch wie sich Maria auch dank der Leidenschaft für Fotografie emanzipiert - auf diese Fotografien bezieht sich auch der Titel Die ewigen Augenblicke der Maria Larsson - und ihren Mann trotz all der Leiden irgendwie weiter liebt, wird in Troells schönem Film sehr gekonnt und leise bewegend inszeniert und vor allem gespielt.

8. Dezember 2010

Piranha (Alexandre Aja) 3,82




Und gleich der nächste Fisch-Film: Leider ein ziemlich mieser: dumm, dümmlich, klischeehaft. Jerry O'Connell nervt unglaublich, seine Szenen als koksender, kotzbrockiger Sexclip-Regisseur haben dabei aber keinerlei kritisch-satirische Qualität, ebenso die endlosen Spring Break-Szenen, flache Macho-Witzchen und was hier sonst noch so alles an (männlich-)Gröbstgeistigem anfällt.

Aber, immerhin gibt es hier ein aber: Alexandre Aja ist nämlich, obgleich er für seine Karriere bislang noch keinen Originalitätspreis gewinnen kann, ein sehr fähiger Regisseur und sein Film ist deswegen hin und wieder trotzdem ein Erlebnis, vor allem in der zentralen Massenszene, die ein unglaubliches Gore-Feuerwerk abbrennt. Die morbid-makabre Kreativität bei dieser Massenpanik zwischen Wasser, Motorbooten und Plätzen am vermeintlich sicheren Trockenen ist toll; zig ausgemergelte und ausgeweidete Körper füllen plastisch die Leinwand, eine jetzt schon legendäre Sequenz: schauerlich und spaßig zugleich und dabei beeindruckend inszeniert.

Auch weitere Szenen wie jene mit den beiden Meernixen oder dem malträtierten Geschlechtsteil sind köstlich, der Film macht zwischendurch also schon Spaß. Doch gerade am Ende wird es wieder so sagenhaft lächerlich, dass dieser Spaß unnötigerweise verdorben wird. Rund um die angesprochenen Abschnitte hätte mit etwas weniger Primitivität ein gewitzt-blutiger Tierfantasyhorrror entstehen könnnen, es gab ja schon einige (harmlosere) Beispiele von nicht so extrem dümmlichen Filmen dieser Gattung (z.B. Arachnophobia oder auch Arac Attack). Piranha ist aber leider die meiste Zeit so schlecht, dass am Saaleingang nicht abgegebene Gehirne irgendwann beleidigt sind.

7. Dezember 2010

Gake no Ue no Ponyo (Hayao Miyazaki) 8,02


Ponyo - Das große Abenteuer am Meer beginnt gleich wunderschön mit einer Ansammlung von Meerestieren, der Zeichenstil wirkt in weiterer Folge entspannt simplifiziert und detailreich zugleich. Der Film ist im Gegensatz zu einigen Miyazaki-Vorgängern auch durch eine deutlich einfacher gestrickte Handlung charakterisiert, zudem noch kindlicher als die letzten Werke und erinnert mit seinem weitgehend friedlichen Wohlfühlsetting am ehesten noch an die Stimmung aus Mein Nachbar Totoro. Schön ist vor allem, dass das Element Wasser bzw. das Meer einmal die Hauptrolle spielt. Wenn der Meerzauberer den Wind die Wellen zu gigantischen Ausmaßen peitschen lässt, erreicht der Anime seinen Höhepunkt und wenn danach ganze Straßen unter Wasser stehen und von allerlei Meerestier bevölkert werden, ist das meditativ-bezaubernd. Die Haupt-Handlung um die innige Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Fischmädel mit Zauberkräften ist wie gesagt eher einfach, aber es gibt dennoch genügend Überraschungen, sodass der Film nie auch nur annähernd flach wird.

Ponyo auf der Klippe (so wäre die korrekte Übersetzung) ist also ein weiterer fantasievoll-schöner Beitrag zu Miyazakis Gesamtwerk. Er mag kein überbordend komplexes Wunderwerk sein, wie es sie vom Meister schon gab, dennoch gab es heuer kaum einen besseren "Sonntag Nachmittags-Film“ für Alt und Jung.

6. Dezember 2010

L'avocat de la terreur (Barbet Schroeder) 7,28




Eine sehr aufwendige Dokumentation mit einem Massenaufgebot an (ehemaligen) Kriminellen, Terroristen, Politikern, Experten, Zeitzeugen und natürlich dem Anwalt des Terrors selbst: Jacques Vergès, ein legendärer, undurchsichtiger Anwalt, eine politisch und menschlich ambivalente, selbstherrliche Persönlichkeit.

Der vielseitige Schroeder, der schon früh eine berühmte Dokumentation über General Idi Amin gedreht und danach einige nette Spielfilme (Highlights zwischen 1987 und 1994: Barfly, Single White Female und Kiss of Death) abgeliefert hat, beeindruckt lange mit toller Montage aus rasant geschnittenen Interviews, die mit Archivszenen kombiniert werden. Aber man wird mehr als 2 Stunden ununterbrochen mit Information bombardiert, was auf Dauer selbst für die Hartgesottenen ermüdend sein dürfte. Zudem ist Im Auftrag des Terrors auch bei weitem nicht der erste Spiel- oder Dokufilm über den politischen Terrorismus der 70er. Und schlussendlich kommt auch der charismatische Vergès selbst vergleichsweise gar wenig zu Wort. Ein paar Probleme also eines ansonsten toll aufbereiteten, leicht mühsamen Films.

5. Dezember 2010

Jackass 3D (Jeff Tremaine) 7,46




Die großen, kreativen Ideeen im Jackass-Universum werden langsam spärlich, das für JA ebenfalls neue 3D ist eigentlich völlig für die Würste. Dennoch macht der Film wieder einen Heidenspaß. Vor allem diese pure Kindlichkeit der körperlich längst erwachsenen Jungs bei ihren wilden, blöden, pubertären oder gar beängstigend fahrlässig anmutenden Aktionen wärmt das Herz und foltert das Zwerchfell eines jeden Fans. Die unglaubliche Körperkomik ist auch in der x-ten Auflage noch enorm unterhaltsam und die noch mehr forcierten Genitalgags sowieso das beste.

Am Ende stehen viele Memories, Jackass wird plötzlich sentimental, das ist dann doch neu. Deutet da schon jemand das Ende einer Reihe an? Hoffentlich nicht, dennn was der öde Saw schafft, können die Jackassler doch wohl auch. So mögen Teil 4 und mit etwas Abstand weitere, vielleicht ja dann mit den Namen 5(0+) und 6(0+), gerne wieder das Kino mit Kotze, Schweiß und Freudentränen befüllen.

3. Dezember 2010

In 3 Tagen bist du tot 2 (Andreas Prochaska) 6,30




Das Teen-/Twen-/Zehn Negerlein-Slasher-Thriller-Genre zeichnet sich per se nicht gerade durch viele Höhepunkte aus. Es gibt natürlich einige sehr tolle Filme, der Rest ist meist aber nur gähnend langeweiliges Runterbeten des ewig gleichen blutlüsternen Rosenkranzes. Die österreichische Dialektvariante In 3 Tagen bist du tot wusste durch das spezielle Setting im Salzkammergut und wegen der flotten Inszenierung durchaus zu gefallen, mehr aber auch nicht. Dazu noch einen weiteren Aufguß zu drehen, scheint also erstmal wenig spannend.

Und in Prochaskas Fortsetzung seines eigenen Films tut sich auch vorerst ksum etwas, das dieses Vorurteil widerlegen könnte. Eine gemächliche (Krimi- und) Trauma-Story wird da ausgebreitet, ohne dass Drehbuch oder Schauspieler diese Traumatisierung überzeugend vermitteln können. Die Geschichte ins verschneite Bergland Tirols zu verlegen ist ein netter Einfall, aber abseits dieser Kulisse kann der Film zu lange nichts bieten. Dennoch beeindruckt am Ende der langgezogene „Showdown“ mit blutiger Kompromisslosigkeit und dichter Atmosphäre – in dieser letzten halben Stunde unterhält Prochaska den Zuschauer doch noch gekonnt und sorgt für Intensität. Aber so ähnliche Überlebenskampf-Filme gibt’s halt auch schon wie Sand am Meer, wertvoll ist das auf keiner Ebene und selbst für niedrigere Ansprüche hat der Thriller geasmt gesehen zuviel Leerlauf bzw. erinnert in seinen besten Regie-Momenten an interessantere Genrekollegen, wie etwa Haute Tension. Fazit: Kann man schon mal ansehen, ohne dass es ärgerlich ist, aber auch nur, wenn einem wirklich gar nichts Besseres mehr einfällt.

1. Dezember 2010

Mein halbes Leben (Marko Doringer) 7,35




Ein 30-jähriger in der Krise. Bisher hat er in seinem Leben nichts erreicht, er beschließt einen Film über seine daraus resultierenden Selbstzweifel zu drehen. Mit der Kamera bewaffnet (das Ganze ist konsequent aus einer Art Egoperspektive gefilmt), porträtiert er seine Freunde und Bekannte, die bereits "etwas aus sich gemacht haben", sei es beruflich oder privat oder beides – und immer aber auch thematisiert der Filmemacher sich selbst, seine Gedanken, seine Einschätzungen. Nur wenn er beim Psychologen sitzt, lässt sich Doringer ausnahmsweise von der eigenen Kamera aufnehmen – ein durchaus sympathisches Zeichen.

Die unterhaltsam-nachdenkliche Analyse von Lebensentwürfen ist immer von einer Melancholie, aber auch einer gewissen Süffisanz und Selbstironie durchzogen, zuweilen kann das Jammern der Protagonisten auch etwas nerven. Letztlich ist Doringers Film jedoch ein unterhaltsamer und charmanter Einblick in Lebenseinstellungen einer zwischen modern geprägter Selbstverwirklichung und traditionellen Rollenbildern zerrissenen Generation (und deren Eltern) - bzw. naturgemäß dem Umfeld des Regisseurs entsprechend, sind es hier bloß bestimmte Verteter der gehobenen Mittelschicht.

30. November 2010

Bal (Semih Kaplanoglu) 6,46




Nanu? Honig, der preisgekrönte Abschluß der Yusuf-Trilogie, der Gewinner des Goldenen Bären, jener Teil, welcher der westlichen Filmcommunity am bekanntesten zu sein scheint, entpuppt sich leider als der magerste Teil der Trilogie. Vielleicht spielen nach 2 tollen Filmen und den Auszeichnungen und Lobeshymnen für den dritten auch Erwartungshaltungen eine Rolle; dazu kommt, dass man sich von einem Abschluß vielleicht noch mal etwas Besonderes erwartet. Doch die große Begeisterung will sich hier leider nicht einstellen. Diese faszinierende Person Yusuf gibt als Kind einfach nicht so viel her wie seine erwachsenen Pendants, der ganze Film ist diesmal fast noch ruhiger als seine Vorgänger, kryptische Szenen kommen kaum vor, die Ereignislosigkeit ist noch etwas auffälliger und beim dritten Mal in dieser Form dann doch schon etwas mühsam, das Verlassen auf das Setting einer Kindheit in der Abgeschiedenheit der Berge und die daraus resultierende Vormachtstellung kaum berührter Natur doch ein wenig limitierend.

Interessante Entdeckung übrigens, dass dieser Teil auf keinen Fall in der Vergangenheit spielt, obwohl Yusuf ja jünger sein müsste, die Zeitlinien in der Trilogie sind also eher surreal.

Kaplanoglu inszeniert aber, vor allem gegen Ende, wieder beeindruckend (so wird etwa die lange vorherrschende Stille der Natur plötzlich durch Lebendigkeit im Dorf unterbrochen, sehr spannend!), und ganz behutsam offenbart sich nun die Ganzheitlichkeit des bitteren Schicksals von Yusuf. Das Ende ist enorm, hervorragend inszeniert und tief traurig (hat aber gleichzeitig etwas Majestätisches). Leider aber gab es davor die meiste Zeit doch ein bisschen zu viel Leerlauf für einen richtig guten Film.

Als Ende/Beginn der Yusuf-Trilogie besitzt Bal dennoch einen wichtigen Status und bleibt sehenswert. Dass die Trilogie nun zu Ende ist, ist sehr schade - man hätte sich gerade deshalb zum Finale ein etwas aufregenderes, gehaltvolleres, oder ein auf wenig- bis unterbewusster Ebene durch mehr meisterliche Bilder und Szenen packenderes Werk gewünscht.

29. November 2010

O Estranho Caso de Angélica (Manoel de Oliveira) 6,73




Eine betörende Frau, die einen Mann so dermaßen in ihren Bann zieht, dass sein Leben völlig aus den Fugen gerät und er offensichtlich ins physische und soziale Verderben gestürzt wird - doch ist nicht das Wichtigste im Leben ohnehin die Liebe?

Eine derartige Beschreibung von de Oliveiras neuem Film hört sich ja genauso wie sein letzter Film an! Und wieder wird der arme männliche Tor vom selben Schauspieler (Ricardo Trépa) verkörpert! Doch es gibt natürlich auch Unterschiede. Der bedeutendste und nicht gerade unerhebliche: Die verführerische Schönheit ist hier bereits zu Beginn des Films mausetot! Minutenlang liegt sie aufgebahrt da, ihr bizarr strahlendes Lächeln wird vom tragischen Helden (ein Profi-Fotograf) und der Filmkamera beleuchtet. Was ist hier los? Wie kann diese Tote die zentrale Figur einer Liebesgeschichte sein? Schlägt sie gar wieder die Augen auf?

de Oliveira spielt in diesem sich mehr als unsterblich verlieben-Drama öfter mit den Erwartungen des Zuschauers, dreht einen Film auch über das Medium selbst, über filmische und fotografische Manipulationen, und ähnlichem. Auch die zeitliche Einbettung der Geschichte ist für den Betrachter lange schwierig herzustellen, irgendwann lässt sich zwar schon die Gegenwart ausmachen, aber dennoch ist es eine höchst altmodische Welt, auch in dieser Ansicht also wiederum eine starke Ähnlichkeit zum Vorgänger.

Leider wird aber die Klasse dieser Eigenheiten einer jungen Blondine, einem absoluten Ausnahmewerk, vom Folgefilm nicht erreicht. Der seltsame Fall der Angelica ist ein schön schauer-romantisches Stück Film, und es wird auch nicht allzu oft vorkommen, dass ein über 100-jähriger Regisseur zum ersten Mal in seiner Karriere noch Computereffekte integriert (und dann noch auf so entspannt altmodische Weise). Dennoch vermag es dem Portugiesen mit seinem 30. Langspielfilm schlußendlich nicht gelingen, echte Begeisterung aufkommen zu lassen. Es ist eher so, als sähe man im Kino des 21. Jahrhunderts einen sehr alten Film, der frühere Generationen einmal sanft unterhalten hat. Das vermag er zwar auch noch heute, aber viel mehr ist da leider nicht.

26. November 2010

El sicario - Room 164 (Gianfranco Rosi) 8,43




Nur kurze Zeit nach der feinen Wüsten-Aussteigerstudie Below Sea Level hat Gianfranco Rosi schon wieder eine höchst sehenswerte Doku gedreht. Es ging auch deshalb so schnell, da dieses außergewöhnliche Projekt nur wenige Stunden Dreharbeit in Anspruch nahm. Basierend auf der Vorrecherche und einem ausgezeichneten Zeitungsartikel des Journalisten Charles Bowden trifft und interviewt Rosi einen ehemaligen Folterer und Killer eines riesigen mexikanischen Kartells. Dieser erzählt - die ganze Zeit mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf unkenntlich gemacht (und dennoch alleine durch Stimme und Hände enorm präsent) - wie ein Wasserfall von seinem abenteuerlich anmutenden, aber scheinbar für seinesgleichen recht typischen Werdegang und seinen wilden, verstörenden Grenzerfahrungs-Taten. Zwei Besonderheiten gestalten dieses filmische Protokoll darüber hinaus beeindruckend: der sicario (Auftragsmörder) erzählt das alles in einem Hotelzimmer (Nummer 164), in dem er früher Gefangene gefoltert und ermordet hatte, und er zeichnet wie ein Besessener alle seine Erzählungen selbst mit: im Laufe der Dreharbeiten füllt er auf diese Weise ein ganzes Buch mit Skizzen seiner Handlungen sowie persönlichen Ansichten und Einstellungen.

Der sehr charismatische, namenlose Aussteiger, auf den derzeit Kopfgeld ausgesetzt ist, fesselt den Zuseher bei gleichzeitiger Abscheu und Neugier dadurch fast 90 Minuten in den Sessel; die bei so einem Projekt mögliche Gefahr der Eintönigkeit kommt gar nicht erst auf, so drastisch ist das Thema und so unglaublich ist es doch, diesen Mann unverblümt die Innenansichten eines erbarmungslosen Kartells und vor allem seine eigenen Beweggründe, seine Gefühle intim schildern zu sehen und zu hören, bis es am Ende zu einem kuriosen Ausbruch kommt. Ein tief beunruhigender und zugleich faszinierender Mensch – das gleiche gilt somit natürlich auch für diesen besonderen Film.

25. November 2010

Oceanul Mare (Katharina Copony) 5,10




Eine mäßige Doku über drei chinesische Auswanderer, die sich in Bukarest eine Existenz als Geschäftsleute aufgebaut haben. Der Film ist zwar einfühlsam und an den (zunächst auch noch durchaus interessant anmutenden) Menschen dran, die Charaktere philosophieren über ihr Leben, aber das, entschuldigung, Geschwafel und die Alltäglichkeiten sind dann doch eine Spur zu beliebig (für eine "preisgekrönte Doku"). Da die oft aufreizend langsame, fast banale Inszenierung auch immer mehr im Nichts verläuft, ist dieser dokumentarische Filmbeitrag im Vergleich mit vielen anderen spannenden Kollegen, die von der gegenwärtigen weiten Welt und ihrer Bewohner berichten, eher langweilig und wenig anregend.

24. November 2010

Süt (Semih Kaplanoglu) 8,26




Nach dem Ei kommt die Milch. Der zweite Teil von Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ beginnt gleich mal mit einer meisterlichen, verstörenden Szene vor dem Vorspann. Danach entspinnt sich wieder dieser ruhige, dialogarme, bildstarke Stil, der schon Yumurta kennzeichnete. Yusuf ist jetzt 20 Jahre jünger, ein junger, einsamer Mann auf dem Land, er lebt zusammen mit der Mutter (die im ersten Teil ja frisch verstorben war). Wir lernen, dass Yusuf auch in diesem Alter schon ein sehr ruhiger, in sich versunkener Typ ist, der kaum soziale Kontakte hat. Er ist ein Poet, der hofft, dass eines seiner Gedichte mal veröffentlich wird.

In Süt passiert scheinbar nicht viel, jedoch wird ungemein stilvoll eine faszinierende Geschichte eines jungen Mannes, der prägende Lebenserfahrungen macht, erzählt.

Im letzten Drittel ist der Film dann stark surreal bzw. metaphorisch geprägt, Kaplanoglu inszeniert plötzlich sehr mysteriös-kunstwillig. Schwer entschlüsselbar, ziemlich beeindruckend. Das Ende lässt einen rätselnd zurück und die Gewissheit, dass wir Yusuf nur noch als Kind sehen, von seiner späteren Entwicklung aber nichts mehr erfahren werden, ist gar nicht so leicht zu verkraften, so toll sind Werk und Person. Aber gerade dieses gezielte Offen lassen von Vielem, was in einem Mainstream-Epos (oder auch einem Entwicklungsroman) vermutlich detailreich abgehandelt worden wäre, macht die Größe des Films (bzw. der gesamten Trilogie) aus. Und Süt ist, das sei schonmal vorweg genommen - trotz des großen Erfolges des abschließenden Bal/Honig - als Herzstück auch der stärkste Teil der Trilogie.

23. November 2010

Hunger (Vetter/Steinberger) 8,08




Nicht das gleichnamige Polit-Kunst-Drama (das hier natürlich auch noch einmal besprochen werden wird), sondern eine Fernseh-Dokumentation zum Thema (Dritte)Welthunger. Dass dieser Film nicht fürs Kino gedreht wurde, mag man ihm anmerken, man fühlt sich durch Verzicht auf starke Bilder oder wuchtige Szenen, u.ä. aber auch wesentlich sachlicher informiert als in so manch anderem vergleichbaren Dokumentarfilm (etwa Wagenhofers We feed the world). Die Kombination aus Filmemacher und renommierter Journalistin trägt dazu sicher auch bei. In 5 Ländern wurde recherchiert und hautnah dran, aber nicht sensationalistisch gedreht; Menschen, die an Hunger leiden, bekommen ebenso ein nüchternes Sprachrohr wie solche, die mithelfen, etwas zu verändern. So entsteht in 90 Minuten ein interessantes Bild einer (für einen Film generell viel zu) komplexen Problematik.

22. November 2010

Moon (Duncan Jones) 7,85




Ein Mann am Mond, ganz allein arbeitend. Bald hat er erste psychische Wahnvorstellungen, der Film scheint im Fahrwasser von Solaris zu schwimmen. Doch die Geschichte dreht sich hier um ein anderes Thema..

Moon ist ein relativ simpler, aber kompetent inszenierter, durchwegs spannender Film; ein sympathisch unaufgeregtes, humanistisch-klonistisches Werk. Getragen von einer One Man Show des leidenschaftlichen Sam Rockwell und einem wieder einmal großartigen Soundtrack von Clint Mansell entspinnt sich nette Sci-Fi-Unterhaltung, nicht mehr und nicht weniger. Nach dem Abspann bleibt nicht viel zu reflektieren, diese Mondreise ist auch bei weitem nicht so visionär und spektakulär wie etwa der letzte große Weltraumfilm, Danny Boyles Sunshine, doch Jones hat ordentliche Unterhaltung abgeliefert.

20. November 2010

Invernadero (Gonzalo Castro) 0,60




Ruhige, sperrige, schwierige Filme sind schön. Unbewegte Kamera ist was Tolles. Filme über eigenbrötlerische Schriftsteller sowieso immer fein. Doch Invernadero ist anders. Invernadero ist belanglos. Ärgerlich. Unendlich belanglos. Und noch immer. Die Gespräche wären sogar in einer privaten Unterhaltung nicht besonders interessant. Im Kino sind sie, auf eineinhalb Stunden gedehnt, eine Zumutung. Szene auf Szene reiht sich ein Pseudo-Dialog an den nächsten. Der Schriftsteller uncharismatisch, langweilig, auch ziemlich unsympathisch. Am Ende gibt es Almodovar-Bashing, sein neuer Film sei doch so langweilig gewesen, köstlich. Wer im Gewächshaus sitzt, sollte bitte nicht mit Felsbrocken werfen.

Wenn es darum gehen soll, einen Schriftsteller und seinen Alltag als möglichst unglamourös und belanglos darzustellen: schön. Wäre auch eine feine Sache. Aber selbst unter dieser Prämisse ist der Film völlig gescheitert. Radikal ist er nämlich kein bisschen, nur einschläfernd und ärgerlich beliebig. Am Ende gibt es sogar Applaus; Leute, denen dieses Werk gefällt, scheint es tatsächlich zu geben. Vielleicht haben sie ja zum ersten Mal eine statische Kamera und einen langweiligen Künstler gesehen...

19. November 2010

Kaboom (Gregg Araki) 6,10




Eine Hochglanz-Highschool-Sex-Klamotte. Araki-Style. Heisst, es gibt nicht nur Fun, Sex und Drogen, sondern auch düstere Visionen, Vorahnungen der Apokalypse. Doch anders etwa als in dem aufregenden Nowhere ist hier alles eine Spur leichter. Leichter verträglich, weniger Psychoscheiß, kaum Verstörung. Strahlend hell die Bilder, schön und heiß die Studenten. Ironie? Höchstwahrscheinlich..

Das Treiben in Kaboom ist auch etwas hohl, zu beliebig und etwas zu sehr Abklatsch vergangener Arakis. Man wünscht sich dann oft während des Films, jetzt mögen das Chaos, das Düstere, die verstörenden Elemente, vielleicht auch neue Facetten des Regsisseurs sich endlich den Weg bahnen, doch alles bleibt recht clean.

Das Ende allerdings macht dann doch richtig Spaß: Placebo singen vom bitter end, plötzlich überschlägt sich alles und Dauergrinsen kann sich einstellen, der Film endet fulminant. Die 90 Minuten davor werden dadurch aber auch nicht entscheidend besser. Kaboom ist leider nur ein Araki light: immer noch ganz witzig, aber im Grunde überflüssig.

17. November 2010

Trash Humpers (Harmony Korine) 8,26




Müll-Rammler! Dauergeile Senioren! Baby-Quäler! Gegenstände-Demolierer! Verstörende Aufnahmen in schleißigster Video-Qualität. Eine Art Avantgarde-Aktionisten-Dada-Gaga-Blair Witch Project. MAKE IT MAKE IT DONT FAKE IT!

Harmony Korine (Gummo; Autor von Kids, Ken Park) hat ihn gemacht: nicht den besten, aber wohl den kultigsten Film des Jahres. Die Frage, ob diesem nervenvögelnden Meinungsspalter eine bedeutsame Subversivität innewohnt, oder ob die filmische Attacke auf jeglichen Geschmack irgendeinen Sinn ergibt, erscheint selbst ziemlich sinnlos. Es heißt eher, diese komisch-irritierende Abartigkeit, dieses Zelebrieren eines Nichts an Story, die Poesie des Hässlichen als etwas ganz Besonderes zu genießen (oder zumindest zu respektieren).

Korine inszeniert nicht einfach nur irgendwas, sondern er dreht ein bewusstes Manifest für das Außenseitertum, eine provozierende Attacke auf die Normalität, auf gute Manieren, auf Anstand und Moral. Junge Menschen in Seniorenmasken, die Dinge tun, vor denen viele alte Leute heute Angst haben, dass die gottlosen, aggressiven Jugendlichen so drauf sind – das ist weird und hintersinnig zugleich.

Nach gut einer Stunde ist das hedonistische Treiben aber auch etwas redundant und ermüdend. Dennoch, dieser Film ist so außergewöhnlich, so außerhalb von allem: der böse siamesische Zwilling von Jackass, vielleicht der Pink Flamingos seiner Generation.

Am Ende dann die pure Poesie. Die vormals so verstörende Frau, die die Babypuppen mit dem Rad durch den Dreck geschleift hat, spaziert mit einem echten Baby durch die dunklen Strassen. Der Ton wird ganz sanft, das vormalig düstere Lied von den drei Teufeln, die über die Mauer sprangen und alle ermordeten, nimmt einen friedlichen Text an und fungiert als veritables Schlaflied für das Baby. Harmony Korine, selbst ein Teufelskerl, hat hier sein radikalstes Werk, sein Meisterstück abgeliefert. Und alle Fans dieses Films mögen danach selbst zum Spaß Mülltonnen rammeln, dämlich-diabolisch lachen und das Lied von den three little devils singen. Alle anderen flüchten vor oder aus diesem Film, oder bleiben für immer von ihm verstört. Dabei wollen die Humpers doch nur spielen.

16. November 2010

Winter's Bone (Debra Granik) 9,35




Hin und wieder gibt es so einen Film, der einen von der ersten Minute packt und dank perfekter Regie, hervorragender Darsteller und einer intensiven Geschichte auch bis zum Abspann und weit darüber hinaus nicht mehr los lässt. Mit dieser Romanverfilmung ist der amerikanischen Filmemacherin Debra Granik mit ihrem erst zweiten Werk so ein intensives, düsteres, ungemein dichtes, authentisch und beklemmend wirkendes Meisterstück gelungen.

Ein 17-jähriges Mädchen, irgendwo in einem unwirtlichen Abschnitt Missouris, die Mutter psychisch krank, der Vater im Knast, sie kümmert sich um die zwei kleinen Geschwister. Es ist eine raue, von Männern, von harten Kerlen dominierte, triste, schäbige Welt, in die man hier mehr als überzeugend hineingeworfen wird. Eines Tages der Schock, der die undurchsichtige Geschichte in Gang bringt: der Vater, in Drogengeschäfte verwickelt und verhaftet, hat als Kaution das Haus der eh schon bettelarmen Familie hinterlegt und ist spurlos verschwunden, die Existenz der Heldin und ihrer Verwandten wird bedroht.

Ree, die Heldin, fragt unbeirrt in der organisiert-kriminellen Nachbarschaft nach, wo der Vater sein kann. Doch seine Drogen-Kumpanen, zum Teil die eigene Familie hält dicht und zeigt ihr die eiskalte Schulter. Sehr milde ausgedrückt, denn in diesem Film herrscht eine enorm bedrohliche, durch Gewaltbereitschaft bestimmte Atmosphäre. Die zart und verletzlich scheinende, aber gleichzeitig megatoughe Ree missachtet jedoch immer mehr frech und unerschrocken interne Gesetze in diesem brutalen Patriarchat und begibt sich damit in unmittelbare Lebensgefahr und auch ins Reich der Schmerzen - der Film ist alles andere als zimperlich.

Es entspinnt sich im weiteren Verlauf eine komplexe Geschichte, ein Heimatkrimi, so intensiv wie es äußerst selten ist. Spontane Assoziationen an Vorbilder lauten: Chinatown oder Badlands und mit solchen Klassikern in einem Atemzug darf Winter's Bone künftig auch ohne Zweifel genannt werden.

Am Ende dieser hervorragenden Tour de Force wird sogar die Säge angeworfen und für kurze Momente mag man sich an beliebte Horrorfilme erinnert fühlen, was im Saal einige zu Gelächter animiert. Doch in der gleichen Sekunde ist da auch schon wieder diese Beklemmung spürbar, diese tiefe Bitterkeit in einem markerschütternden und gleichzeitig ungemein spannenden, kurzweiligen Kino(!!)-Meisterwerk.

15. November 2010

Koyamaru (Jean-Michel Alberola) 7,07



Es folgt eine pure Dokumentation: Koyamaru, ein japanisches Dorf, gar nicht so weit entfernt von Tokyo, aber dennoch abgeschnitten von vielen Errungenschaften der modernen Zivilisation. Hier leben die (vermehrt alten) Leute in friedlichem Einklang mit der Natur, absolut entschleunigt. Der Stil des Films entspricht auch dieser Ruhe, zweimal 90 Minuten hat sich Alberola für sein Porträt Zeit genommen, geteilt nach Jahreszeiten: zunächst Winter und Frühling, dann Sommer und Herbst. In Schwarz-weiß und generell recht kunstvoll gedreht ist Koyamaru schön, aber auf Dauer eben auch ruhig, sehr ruhig. Genau wie sich so ein Dorfleben mit der Zeit auch gestalten dürfte, nämlich etwas fade, verlaufen die beiden Filme über 3 Stunden. Bei den Lobpreisungen der Dorfbewohner an dieses „wahre Leben“ und sich selbst, und gleichzeitigem subtilen Schlechtreden des Großstadtlebens scheint hin und wieder einiges an Konservatismus durch, doch halb so wild: Alberola porträtiert und dokumentiert gefühlvoll und somit ist Koyamaru ein feines, kleines (dabei jedoch sehr zeit-aufwendiges) Projekt, das vermutlich weltweit kaum mehr Publikum hat, als das Dorf selbst Einwohner.

9. November 2010

Le Quattro Volte (Michelangelo Frammartino) 6,67




Ein „Dokumentarfilm“ (so die Einordnung im Viennale-Programm) über einen Ziegenhirten irgendwo in den Bergen Kalabriens. Traumhafte Bilder, ein alter Eigenbrötler bei der naturverbundenen Arbeit…simpel und schön zugleich verläuft zunächst dieser Film, doch er wird seinen Stil noch einige Male ändern…

Nach einiger Zeit nämlich gibt es da eine sensationelle Szene mit einem Passions-Umzug, einem Auto, einem Hund und einer seelenruhig von links nach rechts und wieder zurück schwenkenden Kamera. Da wird einem auch klar, dass „Dokumentation“ das falsche Wort ist. Frammartino hat einen großartig freien und von allen Genres und Regeln losgelösten, sicher nicht nur dokumentierenden Naturfilm gedreht: plötzlich groteske Ziegencomedy, dann putzige Tierbabyszenen, kurz darauf wieder ein mild düsterer Tierbabythriller, das ist etwas Besonderes und macht auf wunderbare Weise Spaß.

Doch dann leider ein weiterer Bruch, der den Film im letzten Drittel in weniger erbauliche Regionen abfallen lässt. Den großartigen Darstellern Hirte, Hund und Ziegen folgen nun die Dorfgemeinschaft und Produktionsprozesse als Zentren des Films. Und das wirkt plötzlich festgefahren, vorhersehbar. Sicher: ein Kreislauf schließt sich (Le quattro volte = Die vier Jahreszeiten?), es macht Sinn, es ist kaum wirklich kritisierbar, was Frammartino da mit seinem Film macht. Aber so spaßig und erfrischend anzusehen wie es lange war, ist so ein Verlauf fast ein wenig schade. Dennoch über weite Strecken ein echtes Erlebnis!

8. November 2010

The future will not be capitalist (Sasha Pirker) 4,90




Ein kokett aufmerksamkeitserregender, sensationalistischer Titel, aber dahinter steckt bloß ein wenig aufregender Kurzfilm, dessen Tiefgang (oder weniger fordernd formuliert: Qualitätsmerkmal) entweder erst gar nicht vorhanden ist oder dermaßen minimal, dass nichts wahrnehmbar ist. Sasha Pirker filmt eigentlich nur ein Gebäude, in dem die kommunistische Partei Frankreichs ihren Sitz hat. Für Architektur-Interessierte mag das noch ansprechend sein, für den gemeinen Zuseher eher fad.

Zusammenhänge zwischen dem Gebäude an sich und der kommunistischen Ideologie sind dadurch gegeben, dass beide schon bessere Zeiten gesehen haben, das war es dann aber auch schon wieder. Ein scheinbar recht berühmtes Bauwerk als einstige Meisterleistung und jetzige Halb-Bruchbude zu zeigen, mag für die Künstlerin reizvoll sein, aber dieses Werk mit einem fast verzweifelt anmutenden, (Zuseher, die etwas im weitesten Sinne
Politisches erwarten, in die Irre führenden), oder vielleicht einfach nur sarkastischen Titel ist auch trotz seiner kurzen Laufzeit von knapp 20 Minuten ziemlich dröge.

2. November 2010

Monuments (Redmond Entwistle) 6,55




Drei Männer gehen auf die Kamera zu. Es sind Schauspieler, die Architekten bzw. Künstler verkörpern. Gemeinsam schreiten die Herren zu Plätzen und Gebäuden in New York und New Jersey, die sie gestaltet oder mit denen sie sich intensiv beschäftigt haben. Immer wieder fährt ein Kopierer über Artikel, die einst von den Herren verfasst wurden und darüber wird dann philosophiert. Oft schwer verständlich für den Laien, sehr speziell, aber es scheint immer ein angenehmer Humor durch.

Es ist ein halbstündiger Special Interest Film, für dessen Verständnis man vermutlich in der Materie drin sein muß, dennoch gelingt es Entwistle auch für einen völlig Außenstehenden ein faszinierendes Erlebnis zu schaffen, indem er die Protagonisten seines Essayfilms auf Wanderschaft schickt und so Mensch und öffentlichen Raum geschickt miteinander interagieren lässt. Das Sperrige wird mitunter durch filmisch durchaus beeindruckende Sequenzen (wie etwa den Ausklang) oder schräges Monologisieren aufgelockert und so lässt sich selbst, wenn man weniger von der Materie versteht, von einem feinen, mit Liebe produzierten Film sprechen.

Get out of the car (Thom Andersen) 6,65




Schilder. Bilder. Ein Schilder-und-Bilder-Film. Und ein Musik-Film. Ein Los Angeles-Film (typisch für Andersen scheinbar, übrigens). Die Kamera starr. Alle paar Sekunden ein neues abgenütztes, ausgefranstes, nicht mehr verwendetes Schild, eine neue religiös motivierte (Ghetto-)Wandmalerei. Hin und wieder ein (eh kaum verständlicher) Kommentar. Vielfalt in Los Angeles, so abgefuckt, so kreativ, so profan, so religiös, so spannend, so fade. Das halbstündige Erlebnis im Kinosessel zwiespältig: nie ist diese Arbeit, die einem Gang durch eine Ausstellung ähnelt, wirklich begeisternd, aber letztendlich wars doch ganz nett, fast wie ein relaxter Stadt-Spaziergang an kuriose Orte, die man zum ersten Mal sieht.

Interludium - de Andrade, Denis, Cohen

Diesen Blog habe ich Anfang des Jahres vor allem gestartet, um die schier unüberblickbare Vielzahl an neu erschienenen und auch wirklich sehenswert erachteten Filmen - von denen die besten leider zunehmend den meisten erst gar nicht bekannt zu sein scheinen - vorzustellen und zu besprechen.

Was übrigens als Arbeitnehmer außerhalb des Filmjournalismus eine ohnehin niemals bewältigbare Aufgabe ist, wie mir mittlerweile bewusst ist. :) Anyway, i try my best...

Selbstverständlich schaue ich aber auch regelmäßig ältere Filme, die ich ab heute auch noch hier besprechen möchte. Um jedoch das Hauptanliegen des Blogs nicht zu konterkarieren und die Überschichtlichkeit zu wahren, werde ich diese älteren Werke von Zeit zu Zeit jeweils in 3er-Gruppen als Interludium, also Zwischenspiel, zusammenfassen.

Los geht es also mit folgenden 3 Filmen:


Macunaima 8,1

Der Titel ist der Name des Antihelden, der Film beginnt mit dessen Geburt. Er fällt bereits als (nur physisch) "Erwachsener" aus Mutters Schoß zu Boden. So ist de Andrades Groteske von Beginn an enorm absurd. In den folgenden knapp 100 Minuten passiert unendlich viel Verrücktes, der Film wechselt mühelos Genres und Settings und erzählt eine weirde Coming-of-Age Geschichte, vielleicht am ehesten vergleichbar sogar noch mit Forrest Gump, oder nein, lassen wir diesen Vergleich lieber sein. Immer wieder geht es natürlich um Frauen (und Sex); und eine, nämlich eine Art männermordende Hexe beendet schließlich auch sein Leben. Zu diesem Film gäbe es sicher noch viel zu sagen, doch um den Rahmen nicht zu sprengen, nur noch eines: Bei all den kreativen Wahnwitzigkeiten ist er durchaus kurzweilig und hat auch gewissen Tiefgang, irgendwann aber ist das Ganze dann aber doch etwas ermüdend, vielleicht sogar etwas zu sehr "Stückwerk". Toll zum Ansehen, aber wenig, was nach dem Abspann übrig bleibt.


Beau Travail 7,2

Claire Denis inszeniert beeindruckend, opernhaft, mysteriös. Die Geschichte um eine Gruppe von Fremdenlegionären aber wird kaum greifbar, Entscheidendes wurde wohl auch absichtlich ausgelassen.. Mit der Zeit fand ich den Film immer weniger interessant, die Tragödie der Melville-Vorlage (mir nicht bekannt) vermag Denis nicht besonders gut erfassen, so scheint es zumindest. Ein durchaus interessanter, enorm sperriger, phasenweise atemberaubender, dann aber auch wieder zu kalt lassender Film.


Bone 8,7

Ein mieser Tag in Beverly Hills. Ein reiches, weißes Ehepaar am Pool. Plötzlich ein Eindringling, ein krimineller Schwarzer! Nervenzerrende Jazzmusik und ebensolche Inszenierung, ein klaustrophobischer Psychothriller a la Funny Games scheint sich anzubahnen. Doch bald schon dreht der Film ab, auf oft unglaubliche Art und Weise. Der meist unpackbar unpassende Humor, die Einfälle sind sensationell. Genau das Richtige für Leute, die glauben, schon alles an schrägen Filmen gesehen zu haben. You will be mind-raped!

L'École du pouvoir (Raoul Peck) 8,27




Nach dem ziemlich zahnlosen Moloch Tropical über seine Heimat Haiti hat Raoul Peck mit Unterstützung von 3 weiteren Drehbuchautoren mit diesem TV-Vierstünder über die Politik in seiner Wahlheimat Frankreich in den 80ern eine sehr süffige, schwer unterhaltsame Mini-Serie hinbekommen.

Anhand einer kleinen Gruppe junger Elitestudenten, die Lehrjahre der Macht (korrekt: die Schule der Macht) durchlaufen, und die sich gegenseitig zunächst schwören, trotz ihrer guten Chancen die "großen Organisationen" links liegen zu lassen, und wirklich etwas bewegen wollen, erzählt Peck eine vielschichtige und spannende Geschichte über die komplexen Problematiken der Realpolitik, über Macht(mißbrauch) und Korruption, über große Ziele und bittere Einsichten.

Aber, und das gestaltet dieses Politdrama so lebendig und unterhaltsam, es wird eben wie in einem klassischen TV-Mini-Epos üblich, auch leidenschaftlich geliebt und gehasst, politisch und privat diskutiert und gestritten, gemeinsam gelitten; und egal, ob man links oder rechts steht, die Freundschaft (bzw. auch Familie) verbindet die 5 Jungpolitiker für immer.

Peck bindet in die Spielfilmhandlung immer wieder virtuos (und oft atmosphärisch mit Musik untermalt) Archivaufnahmen politischer Ereignisse oder Debatten aus dem Frankreich der 80er ein, und spannt so - 4mal eine Stunde lang - ein tolles, zugleich niveauvolles und unterhaltsames Drama mit lebendigen Charakteren, mit denen man im Kampf um ehrenvolle und etwas bewegende Politik gerne noch länger mitfiebern würde.

31. Oktober 2010

Road to Nowhere (Monte Hellman) 5,60




Eine DVD wird in einen Laptop gelegt und der Film Road to Nowhere beginnt. Doch es ist nicht der Monte Hellman - Film, sondern ein Werk von Mitchell Haven. Solche Film-im-Film - Spielereien sind bei Hellmans Road to Nowhere auf der Tagesordnung: man merkt oft einfach nicht bzw. soll rätseln, ob man gerade im Haven-Film ist oder ob man den Schauspielern bei privaten Gesprächen am Filmset zusieht.

Es geht um die Verfilmung eines wahren Verbrechens, um einen jungen ambitionierten Regisseur, der eine betörend schöne junge Dame als Hauptdarstellerin castet, sich in sie verliebt und sich durch seine Obsessionen ins Unglück stürzt. Oder eher gestürzt wird. Die Schöne scheint Geheimnisse zu haben und hatte eventuell sogar selbst mit dem Verbrechen, in dessen Verfilmung sie jetzt spielt, zu tun...

Was nach spannendem Verwirrspiel klingt, ist nicht bloß deshalb recht zäh, weil Hellman enorm langsam, ruhig und wenig glamourös inszeniert. Die Regie entfaltet dadurch sogar einen düsteren Sog (und es gibt einige herrliche, die Stille durchbrechende Schocks, die wirklich sitzen) und man verfolgt den Film recht gespannt, obwohl sich das Spiel mit den Ebenen mit der Zeit als eher hohl entpuppt und die Geschichte einfach sehr unaufregend ist. Auch die komischen Einsprengsel die Filmcrew und Schwierigkeiten beim Filmdreh betreffend, sind nicht besonders gelungen.

Oft fühlt man sich dann möglicherweise wie in einer Magervariante eines Films von David Lynch, der mit Werken wie Mulholland Drive und Inland Empire jedoch wesentlich mehr Unbehagen erzeugen konnte und außergewöhnliche Filme schuf, über die man lange nachdenken und sie immer wieder ansehen kann. Der leicht gehypte, aber dafür doch recht mäßige Road to Nowhere dagegen erzählt seine grundsätzlich zwar nett düstere, aber doch minimalistische und keinesfalls neue Geschichte auf zunehmend ermüdende Art und Weise.

29. Oktober 2010

Balada triste de trompeta (Alex de la Iglesia) 9,16




Mit dieser epischen, während der Franco-Diktatur verorteten Geschichte eines traurigen Clowns, der sich in die aufregende Freundin des lustigen, aber unter Alkoholeinfluß schwer gewalttätigen Clowns verliebt, brennt de la Iglesia ein bildgewaltiges, hervorragend inszeniertes Feuerwerk der Leidenschaft und Gewalt ab.

Eine Vielzahl von Genres verschmilzt hier zu einem meisterhaften und vor allem enorm unterhaltsamen Ganzen: Zirkusfilm, Melodram, Horror, Thriller, und immer wieder die (politisierte) Groteske; ein Film, der sich oft auch direkt aufs Kino bezieht (schon mit dem Vorspann) und überlebensgroß eine monströse Geschichte erzählt, von Begehren, Eifersucht, einer verzweifelten Karriere, Charakter-Wandlungen von Gut zu Böse und umgekehrt oder irgendwo dazwischen, und natürlich von Spanien selbst, einem vom Krieg zerrissenen Land.

Die traurige Ballade der Trompete (oder des Trompeters?) wird ob seines fiktiven, lustvoll-gewaltreich-grotesken Spiels mit einem dunklen Kapitel der Geschichte hie und da bereits mit Tarantinos Inglourious Basterds verglichen, dazu sei aber angemerkt, dass de la Iglesias Film deutlich besser ist. Noch abgefahrener, inszenatorisch viel beeindruckender und dabei viel runder als Tarantinos nicht so ganz gelungener Kapitel-Film.

Scheinbar ist Balada triste recht plakativ und spielt auch viel mit oberflächlichen Effekten oder etwa mit pornographie-ähnlichen Sexszenen, u.dgl. Doch die tragische Geschichte zweier irrer Clowns ist durchaus vielschichtig und der Film kippt manchmal unerwartet schräg zur Seite, etwa in der urkomischen Wald-Szene oder mit Javiers finaler Wandlung. Teilweise trägt de la Iglesia mit seinen Thriller-Elementen vielleicht eine Spur zu dick auf, anstatt sich noch mehr seinen Figuren zu widmen, etwa gegen Ende bei der an die berühmte Mount Rushmore-Szene aus North by Northwest (von Iglesia-Vorbild Hitchcock) erinnernden Passage, doch diese Megalomanie ist stets sympathisch; ein umwerfender Film, ein Muß für die Kinoleinwand! Ein gigantisches, komisch-grausames, und noch einmal: außergewöhnlich groteskes Bombardement für alle Sinne – inklusive starker Geschichte.

28. Oktober 2010

Resident Evil: Afterlife (Paul W.S. Anderson) 7,88


Resident Evil: Eine innovative, legendäre, spannende, gruselige, atmosphärisch dichte Videospielreihe. Als Begleiterscheinung entstand zunächst ein sehr mieser, seelenloser Film. Und dann zwei weitere, die noch schlechter besprochen wurden als der erste und daher überhaupt nicht beachtenswert schienen. Nun liegt der vierte Teil der Filmreihe vor, gedreht wieder vom Regisseur des schlechten ersten Films, es sprach also wenig für ein schönes Kinoerlebnis, doch siehe da, Herr P.W.S. Anderson hat überraschenderweise ein sehr nettes, absolut sehenswertes Werk abgeliefert.

In 3D gedreht, überzeugt vor allem der Verzicht auf pausenlose Action und stattdessen die Kombination aus beeindruckenden, mordsscharfen dreidimensionalen Bildern und einem großartigen Elektro-Soundtrack von tomandandy. Wenn es dann mal kracht, spart Anderson nicht mit extravaganten 3D-Effekten oder visuellem Bombast.

Story gibt es hier eigentlich gar keine, bzw. wird die übliche Zombiefilm-Variante reduziert auf Wesentliches wiedergekäut: Eingeschlossene Gruppe wird von Untoten belagert. Hauptattraktion des Films ist neben Bild und Ton Milla Jovovich, die eine ultracoole Präsenz ausstrahlt, ohne dass es peinlich wird.

P.W.S. Anderson hat einen überraschenden, ungewöhnlichen Zombie-/Mainstream-Film abgeliefert, der streckenweise fast surreal entschleunigt ist und das Auge mit wunderbaren Bildern verführt. Nur am Ende wird es ziemlich blöd, aber da sind die Sinne ja schon längst stimuliert und das Gehirn euphorisiert. Und dann singt sogar noch Maynard James Keenan, bevor tomandandys Beats wieder das Kommando im Ohr übernehmen – weit über den Abspann hinaus.

25. Oktober 2010

Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott (Andreas Prochaska) 9,20




Wurde hier vor kurzem noch ein bisschen von der österreichischen Komödie Aufschneider geschwärmt, setzt nun das Team um In 3 Tagen bist du tot-Regisseur Andreas Prochaska und Ulknudel Michael Ostrowski (Slumming, Contact High) in Sachen charmante und eigenwillige Zwerchfellerschütterung gewaltig einen drauf. Der ungemein pointiert inszenierte Film mit dem langen Titel ist zweifelsfrei der lustigste und einer der empfehlenswertesten des bisherigen Kinojahres (und zwar hoffentlich auch bald außerhalb Österreichs).

Stark dominierender pubertärer Sex-Humor wird hier mit kindlichen Naivitäten, bekannten Slacker- und Gaunerfilmelementen, dazu charmanter Wort- und Dialektwitz mit kuriosen Slapstickeinlagen derart gekonnt und irrwitzig verbunden, dass die Lachtränen nach etwas Anlaufzeit permanent fließen und schießen.

Die deutlich ausgestellte Lust an Scherzen und Blödelei (oft durchaus auch tief – egal) wird derart exzessiv ausgelebt, die Kreativität des Drehbuch-Teams (4 Personen) ist enorm, die Sprache, Mimik und Gestik der Darsteller extrem unterhaltsam. Ohne auf die komische Geschichte oder die ironisch-elegante Performance der Theaterlegende Ott genauer einzugehen, sei bloß gesagt: Andreas Prochaska beweist nach seinen netten Heimat-Slashern schon wieder viel Talent und Gespür für die Verknüpfung universal funktionierender Genres mit authentischem österreichischem Schmäh. Also: Ansehen! Und ablachen. DuEdFEO ist sympathische, große Klamauk-Kunst.

22. Oktober 2010

Dirty Paradise (Daniel Schweizer) 7,51




Ein Indianerstamm im Nordosten Südamerikas, der durch illegale Goldsucher in der Nähe bedroht wird: Die Goldsucher brauchen Quecksilber, um das gefundene Gold in Klumpen zu binden, anschließend leeren sie das gefährliche Metall in den Fluß – jährlich mehrere Tonnen! Die Fische sind dadurch natürlich vergiftet – und die Hauptnahrung der Indianer…

Daniel Schweizer, der sich mit Dokumentationen über Neonazis einen Namen gemacht hat, gibt gleich zu Beginn seine persönliche Motivation für diesen intimen Film preis: Als Kind liebte er ein Buch über einen Häuptling dieses Stammes, und wollte nun einmal sehen, wie es diesen, von der Politik und der Öffentlichkeit nicht wahrgenommenen Leuten heute so geht…was dann zu dieser unaufgeregten Doku führte, die mit einem agitatorischen, aber auch verzweifelten Aufruf endet.

21. Oktober 2010

Ce que mes yeux ont vu (Laurent de Bartillat) 5,42




Im Fahrwasser von Dan Browns lächerlich-ödem Da Vinci Code (bzw. dessen Verfilmung) stöbert hier eine Kunststudentin nach geheimen Hinweisen in Gemälden. Zum Unterschied zu Browns aufgeblasener Hysterie jedoch geht es bei Mit meinen eigenen Augen nicht um religiöse Pseudo-Kontroverse und Ähnliches, sondern bloß um eine geheime Geliebte des Malers…

Das Unspektakuläre an diesem kleinen Kunst-Thrillerchen ist also positiv und negativ zugleich: Zum einen gefällt die Entspanntheit (und die viel mit und über Bilder arbeitende Regie), zum anderen zieht der Film trotz eines gewissen eigenen Stils völlig unaufregend vorbei – kaum sehenswert.

18. Oktober 2010

alias (Jens Junker) 5,47




Ein junger Regisseur ruft - on camera - seinen Vater an; er würde gerne einen Film über ihn, bzw. das Vater-Sohn-Familien-Verhältnis drehen. So beginnt diese essayistische Doku über den Filmemacher selbst und eine Suche nach wahrem Ursprung.

Bald erfährt man, dass Junkers Vater nicht sein leiblicher ist und die Familie wird in Interviews mit traurigen Wahrheiten konfrontiert. Junker sucht danach auch noch seinen wahren Vater, es kommt zu einem emotionalem Treffen, die Kamera wie gesagt immer hautnah dabei.

Eine Bewertung dieses Projekts ist heikel: Einerseits ist es schön, wenn ein Künstler seine eigenen Dämonen und Probleme so direkt abarbeiten kann und es ist auch schön, mitzuerleben, wie Junker Probleme in seinem Leben zurechtrücken, zumindest erleichternd beleuchten kann. Auch für Zuseher mit ähnlicher Familiengeschichte mag alias ein schöner Film sein. Andererseits ist es sehr zweifelhaft, wie sich Junker selbst in den Mittelpunkt stellt - denn oft wirken die Treffen mit Familienmitgliedern genauso schlimm wie Ausschnitte aus schlechten, einschlägigen, ausbeuterischen Fernseh-Shows - und wie er Familienmitglieder mit der Macht der Videoaufzeichnung bloß stellt. Ein unangenehmes (wenn auch natürlich nicht unspannendes) Gefühl überträgt sich so immer wieder auf den Betrachter.

16. Oktober 2010

Adam Resurrected (Paul Schrader) 5,90




Der Jude Adam wird im KZ von einem Nazi-Kommandanten gezwungen, für ihn auf Dauer den Hund zu spielen. Auch in der Hoffnung, damit seiner Familie das Leben zu retten können, macht Adam mit. Letztendlich, immerhin, kann er aber nur selbst das KZ überleben.

15 Jahre später, in der filmischen Gegenwart, pendelt Adam zwischen freiem Leben und einer psychiatrischen Klink in der Wüste, wo er nach Gewaltausbrüchen und sexuellen Übergriffen immer wieder eingewiesen wird – wie ein Hund kann er seine Triebe nicht mehr kontrollieren.

Soweit der wirklich spannende Aspekt dieses Films, der endlich einmal wieder Jeff Goldblum in einer Hauptrolle präsentiert. Der Rest ist aber wenig erbaulich: Wie in einer uninspirierten Variante von One flew over the cuckoo’s nest ist die Klinik ein Haufen schräger Gestalten, in den Adam (als hochintelligenter Pseudotherapeut!) Schwung hineinbringt.

Das Ende fällt zugleich seltsam und (für Herrn Schrader doch ungewöhnlich) mainstream-affin versöhnlich aus, der Film schließt unbefriedigend. Dieses Werk ist wie eine nicht gut genug genützte Chance, Ergreifendes mit Tiefgang zu verbinden. Diese psychologische Tiefe nämlich scheint Schrader in seiner Romanverfilmung stets ausstellen zu wollen, ohne sie je zu erreichen – sehr schade. Dennoch ist Ein Leben für ein Leben dank des oft intensiven Schauspiels, der krassen Vorgänge und trotz des eher mäßigen Humors nicht gänzlich uninteressant.

15. Oktober 2010

57000 km entre nous (Delphine Kreuter) 6,72




Die Kamera ist immer an. Interessierte, so es sie wirklich geben sollte, über das Internet ständig live dabei. Eine Familie inszeniert sich selbst und für jeden zugänglich – willkommen in der neuen, schönen Welt!

Nun hat diese Familie in Kreuters irritierendem, zunächst sehr kaltem und leicht verstörenden Film jedoch kaum etwas Sympathisches, etwas im klassischen Sinne „Sehenswertes“ an sich. Ganz im Gegenteil, unsympathische, hässliche, arge Leute bevölkern dieses kleine Universum, zumindest empfindet man so, wenn man anfänglich ganz automatisch die Charaktere einzuordnen versucht, was bei dem fragmentarischen Stil der Regisseurin zunächst enorm schwer fällt. Diese schwierig zu verkraftende Kälte wird durch das vorliegende Filmposter übrigens bereits recht gut repräsentiert.

Mit der Zeit findet man sich etwas besser zurecht, und auch die eine oder andere Person (vor allem die zunehmend im Mittelpunkt stehende, ziemlich schräge Teenagerin Nat) wird greifbarer und der Film doch sehens- und sogar ein Stück liebenswerter; es entsteht gar so etwas wie Konventionalität, auf inhaltlicher Ebene. Bis dahin muß der formale Wahnsinn erst einmal durchgestanden werden.

Im Versuch, eine gewisse Kälte und fast schon ekelhafte Aspekte der modernen Gesellschaft (etwa Einsamkeit und emotionale Gleichgültigkeit in einer nach außen intakten Familie, Kommunikation und Ausleben von Perversionen über moderne Medien) mit experimentellen filmischen Äquivalenten zu beschreiben, erinnert Zwischen uns das Universum ein wenig an Lukas Moodyssons exorbitant verstörenden A Hole in my Heart, die geniale Intensität und kreative Klasse des angesprochenen Films wird hier aber nie erreicht.

Dennoch wird Kreuters Werk gegen Ende immer interessanter, fast schon poetisch. Und das obwohl die kleine, süße Nat als Identifikationsperson für den Zuschauer immer wieder auch ungewöhnliche, kontroverse Aktionen setzt und damit dieses ständig vorherrschende Unbequeme im Film hält. 57000 Kilometer zwischen uns ist auch ein sehr offenes Werk und beschäftigt sofort mit dem abrupt einsetzenden Abspann. Ein schwieriger, mühsamer, seltsamer, vielleicht manchmal gar Hass evozierender, nicht gänzlich gelungener und doch irgendwie auch ein bisschen schöner Film.

14. Oktober 2010

La terre de la folie (Luc Moullet) 7,65



Das Land des Wahnsinns
, das ist nach Meinung des Filmemachers eine Region im Süden Frankreichs, in der sich irrwitzige Verbrechen und skurrilste Ausprägungen psychischer Störungsbilder verdächtig häufen. Moullet, ein älterer, etwas schrulliger Zeitgenosse, der auch in der Nähe dieses kuriosen Gebiets aufgewachsen ist, stellt sich gleich zu Beginn des unterhaltsamen Films vor die Kamera (ohne erklärende Einblendung), wie als wolle er sich gleich selbst als einen dieser „Irren“ ausweisen.

Dadurch, dass Moullet einige enorm schräge Fälle recherchiert hat, diese von Verwandten, Polizisten, etc. nacherzählen lässt, und drastische Szenen teilweise auch (kurz) filmisch und mit Humor nachstellt, ist der Film fast durchgehend fesselnd und unterhaltsam, gegen Ende können aber schon einige Ermüdungserscheinungen eintreten, da es in einer Wurst in ähnlichem Stil dahingeht. Mittels Interviews eigentümliche französische Landleute zu beleuchten: dadurch erinnert La terre de la folie etwas an Raymond Depardons meisterliche Bauerndoku La vie moderne, den besten Film des letzten Jahres. Während dort aber der warmherzige Kollege sich sehr zurückhielt und seinen Protagonisten liebevoll viel Raum und Zeit gab, spielt Moullet in seiner Regie viel herum und rückt sich im Laufe seiner Spurensuche nach Verrücktheiten auch selbst immer wieder ins Bild, meist sehr ironisch. Auf die Spitze wird das am Ende getrieben, bei einem Streitgespräch mit seiner Frau über den Sinn dieses Films: nach ein paar Längen ein köstlicher Schlusspunkt unter eine gewitzte „Doku“.