31. August 2010

Les herbes folles (Alain Resnais) 7,92




Wild und verrückt sind hier beileibe nicht nur die Gräser: Alain Resnais, der ewige Film- Experimentalist legt auch in sehr hohem Alter noch ein Werk vor, das vor Eigenwilligkeit und Fantasie nur so strotzt. Figuren, Drehbuch, nicht zuletzt auch die Kamera und der Schnitt, hier passiert oft Unglaubliches, für Liebhaber des Konventionellen vielleicht gar Unerhörtes. Fast alles an Vorsicht Sehnsucht ist künstlich und diese Künstlichkeit, dieses „Film sein“ wird oft überbetont, Alltägliches in Zeitlupe gefilmt und mit Klavier- oder Jazzmusik untermalt, ein Zugang, der zwischendurch auch mal nerven kann.

Wenn wir schon von alten Männern mit faszinierender Lebendigkeit im Kino sprechen: Eine im Grunde recht ähnliche Geschichte um einen Mann, der von einer Frau besessen ist, hat der nochmal 12 Jahre ältere Kollege de Oliveira vor kurzem noch gelungener erzählt, dort ist nämlich die Balance aus Tragik und feinem Humor stimmungsvoller sowie der Nachhall des Films für meinen Geschmack noch wesentlich intensiver. Resnais dagegen übertreibt es manchmal derart mit dem Pathos oder den - auch oft mediumreflexiven - Gags, dass Les herbes folles, also das metaphorisch auf seine völlig unvorhersehbar denkenden und handelnden, natürlich vor allem auch von der Liebe verwirrten Figuren umlegbare, wild wachsende Unkraut, wenn ich den Titel richtig deute, eher als Spaß denn als ernst(gemeint)e Abhandlung über sein Thema, ich korrigiere: seine unzähligen Themen zu verstehen ist. Doch was bedeutet das schon? Und überhaupt, genug der Kritik: Resnais Werk ist so unvorhersehbar, so verspielt, so leichtfüßig, dass es durchaus eine Freude ist. Und verblüfft einen da im Kinosessel immer wieder und wieder.

30. August 2010

Inception (Christopher Nolan) 7,53




Ein Film, dessen tragendes Thema das Eindringen in Traumwelten ist, der aber dennoch recht glatt und sauber ausgefallen ist - das scheint die grösste Kritik zu sein, die ihm - neben viel Begeisterung freilich - entgegenschlägt. Und tatsächlich haben die Traumwelten eines Christopher Nolan nicht viel mit jenen eines David Lynch oder anderen visionären Kollegen zu tun: hier geht es im tiefsten Unterbewusstsein eher wie in einem James Bond Film zu, anstatt dass unangenehm surreale oder gar verstörende Elemente auftreten.

Das ist vielleicht etwas schade, fällt aber bei diesem perfekt und aufwändig inszenierten Film kaum ins Gewicht (genausowenig übrigens, wie das finale "Rätsel" wirklich von großer Bedeutung wäre..). Vor allem die gefühlt ungefähr eine schier atemberaubende Stunde dauernde "Szene" mit der finalen Gedankeneinpflanzung ist ein Meisterstück dichter Inszenierung, ein Actionthriller auf drei Unterbewusstseinsebenen: gute Kinounterhaltung.

Auffällig sind vor allem Parallelen bei der Figur di Caprios im Vergleich zu seinem Charakter in Shutter Island: Ein gebrochener Mann, der seine geliebte Frau verlor (aus Eigenverschulden, vielleicht sogar durch ein Gewaltverbrechen?), am Abgrund zum psychischen Wrack wandelt und auf Erlösung hofft - und der Zuschauer muß sich das Puzzle um Schuld und die "Wahrheit" im Laufe des Films selbst erarbeiten. Bezogen auf diese Aspekte ist Scorseses Lehane-Verfilmung im Vergleich zu Nolans selbst geschriebener Abhandlung trotz einer deutlich weniger ernsten, sondern recht pulpigen Inszenierung übrigens schlüssiger und runder ausgefallen.

Inception kann auch mit den besten Werken Nolans - Memento, The Prestige und auch The Dark Knight - nicht mithalten, dazu wirkt er ein wenig zu steril und zu wenig original, darüberhinaus auch gar abstrus. Zudem ist das überaus gefinkelte Spiel mit den Ebenen Traum und Realität auch mittlerweile nicht mehr so aufregend, wie es vorgibt zu sein oder vielleicht einmal war. Obwohl Nolan sehr bemüht ist, kreativ zu sein und sich nicht zu wiederholen (und hier anstatt eines finalen Twists den Film augenzwinkernd, geradezu spöttisch offen lässt) und einen sehr ansprechenden, streckenweise furiosen Thriller geschaffen hat, ist gerade die Oberflächlichkeit ein Problem in einem Film, der offensiv vorgibt, so tief wie nur möglich gehen zu wollen, gleichzeitig aber nur eine zwar sehr unterhaltsame, aber recht kühle Spielerei bleibt.

13. August 2010

Die Tränen meiner Mutter (Alejandro Gardenas Amelio) 4,40




Eigenwilliger Mix eines Familiendramas mit Fantasyelementen um einen kleinen Jungen mit telekinetischen Fähigkeiten (!!), dessen Eltern mit ihm wegen den Verbrechen der Militärjunta in den 70ern aus Argentinien nach Deutschland auswandern und in Berlin in einer Künstlerkommune (bevölkert mit alles andere als wirklich originell oder gar tiefgründig gezeichneten „zart schrägen/liebevollen“ Charakteren) wohnen. Dieses sicher autobiographisch geprägte Werk ist grundsätzlich zwar nicht unsympathisch und auch wird hier der Kunst angenehm gehuldigt (z.B. in einer kurzen, surrealen, plymptonesken Zeichentricksequenz oder durch Ausschnitte aus kleinen, selbstgemachten S/W-Filmchen oder Projektionen von Klassikern wie Nosferatu), nur: Als Ganzes wirkt es ziemlich plan- und konzeptlos. Man merkt dem Film ein gewisses Herzblut und den Wunsch, eine sehr persönliche Geschichte fantasievoll umzusetzen, an, doch vermögen der Regisseur und seine Co-Autorin kaum (etwas) zu bewegen.

Die Story um Ale(x) und seine sich zunächst feurig liebenden, später zerstrittenen Eltern bleibt zu beliebig, die Darsteller farblos, Drehbuch und Regie viel zu mäßig. Irgendwie scheint sich Die Tränen meiner Mutter an großartige Vorbilder wie Léolo, The Squid and the Whale und Amélie anlehnen zu wollen, aber es fehlt hier eigentlich Alles, was einen mitreissenden oder berührenden Film so ausmachen kann. Trickreiche Kamerafahrten und -einstellungen bleiben farblos oder sinnlose Spielerei; der einzige Sinn scheint darin zu bestehen, den Film nicht so trocken aussehen zu lassen oder eine (vorgegaukelte) Magie zu verleihen, die sich aber nie richtig einstellen will.

Erst ganz am Schluß, als das Finale der Fussball-WM 1986 zwischen Argentinien und Deutschland als Aufhänger für (Länder- bzw. personelle) Konflikte verwendet wird, oder der enttäuschte Sohn dem Frau und Kind verlassenden Vater das Trikot mit der argentinischen Diez, der heiligen Trikotnummer 10, vom Balkon in den Dreck wirft, gelingen dem Regie/Autoren-Duo bewegende und auch filmisch recht anspruchsvolle Szenen, die zudem handlungsunterstützend Sinn ergeben. Doch da ist dieser Film schon längst entsetzlich egal und viel zu harmlos sind die vielen Minuten zuvor verstrichen.

Die Szenen mit den telekinetischen Aktivitäten von Ale sollen wohl so etwas wie Alltagsmagie in ein von der Thematik her recht nüchternes Familiendrama bringen, wirken aber stets befremdlich und völlig entbehrlich und das nicht im positiven Sinne. Vor allem am Ende, als die Versöhnung zwischen todkrankem Vater und Sohn steht, ist dies noch einmal deutlich zu sehen: diesem zwar bemühten und persönlichem, aber ziemlich verquasten und leider sehr egalen Film liegt kein Konzept zugrunde, der Regisseur trägt seine Anliegen mit sehr unsicherer Hand vor und vermag es einfach nicht, eine bewegende Geschichte zu erzählen oder irgendeine Linie (selbst wenn es eine chaotische, aber zumindest erkennbare wäre) zu finden. Alles nett gemeint, aber warum sollte man sich so etwas ansehen? Die oben genannten, teilverwandten Vorbilder spielen da alle mindestens 3 Ligen darüber.

10. August 2010

Toy Story 3 (Lee Unkrich) 7,63




Die Spielzeug-Geschichte war gleichzeitig der Beginn der herausragenden Spielfilm-Karriere der Animationsschmiede Pixar und ist auch offenbar immer noch deren wertvollstes und ihnen am meisten am Herzen liegende Projekt. Nun hat man sich entgegen der sonstigen Firmenpolitik, die bislang keine Fortsetzungen der zahlreichen Erfolgsfilme zuließ, sogar zu einem dritten Teil entschieden und damit die ursprünglich kleine Story der quicklebendigen Spielzeuge 15 Jahre später zu einer Trilogie gar epischer Ausmaße ausgeweitet.

Skepsis, ob diese Geschichte mit den zwei bisherigen Teilen nicht schon zur Genüge erzählt wurde und ob die nicht gerade tiefgründig erforschbaren und schon etwas abgenützten Charaktere Woody, Buzz und co noch einen weiteren Teil tragen können, ist im Vorfeld durchaus angebracht. Und gerade als man denken mag, viel mehr als ein akzeptabler, aber nicht begeisternder Neuaufguß der Reihe ist Teil 3 nicht, gelingen dann doch so einige bemerkenswerte bis erstaunliche Szenen: sei es die düstere Lotso-Rückblende (überhaupt dieser knuddelig-fiese Charakter, ein enormer Pluspunkt des Films und eine Bereicherung der Reihe!), die spaßig-kreative Ausbruchsmontage oder diese (für einen Kinderfilm schon grenzwertige?) sehr beeindruckende Szene gegen Ende mit dem Höllenfeuer und dem pathetischen, Gänsehaut erzeugenden Hände reichen der dem Tod ins Auge blickenden Protagonisten: das ist ein großer Kinomoment!

Am Ende steht der fast unerträglich die Tränenproduktion steigernde Trilogie-Abschluß mit Andys Entscheidung über das zukünftige Schicksal der liebgewonnenen Spielzeuge, der beweist, dass in diesem Film, wie eben in der gesamten Reihe, enorm viel an Herzblut steckt, an aufrichtiger Sentimentalität; eine Lobpreisung auf die zu erhaltende oder auch die vergängliche Kindlichkeit, schlußendlich auch eine Gelegenheit für die erwachsenen Zuschauer, sich selbst nach den Filmen einmal wieder an die eigene Kindheit, an seine ganz persönliche Toy Story zu erinnern. Und natürlich ist Toy Story immer, wie der schöne Leitsong auch hier wieder verkündet: eine Hymne auf die Freundschaft. Das ist höchst lobenswert und so behält man auch diesen dritten Film im Gedächtnis, selbst wenn die Figuren rund um Woody und Buzz mittlerweile nicht mehr so ziehen und deren Schmäh nun aber endgültig erschöpft ist: auch Toy Story 3 ist wieder sehenswert und ergibt als Ergänzung und (vorläufiger?) Abschluß der bisherigen Teile sowie der gesamten Pixar-Filmographie und -Philosophie gewaltig Sinn.

5. August 2010

Dr. Alemán (Tom Schreiber) 7,32




Der junge Arzt Marc tritt seinen Dienst an. In Kolumbien, einem für viele sicher recht unbekannten, dafür aber mit gewissen Klischees behafteten Land, das man als Durchschnittsmitteleuropäer schonmal mit hoher (Drogen-) Kriminalitätsrate und unguten Lebensbedingungen in Verbindung bringt. All das wissen der deutsche Regisseur Schreiber und sein Co-Autor Kreidel natürlich und spielen sehr geschickt genau mit diesen Dingen: der Skepsis, der latenten Angst vor dem wilden Leben dort drüben und der Neugier, wie es denn dort wirklich zugeht.

August Diehl ist die perfekte Besetzung für Marc. Ihm nimmt man diesen ambivalenten Charakter ab, der intelligent und sozial engagiert ist, gleichzeitig in seiner Freizeit den schnellen Spaß bzw. das pralle Leben sucht, Koks schnupft und unverblümt (und) naiv gar mit Drogendealern kokettiert und verkehrt. Die unmittelbare Verortung der Geschichte in die kolumbianische Alltagsrealität wirkt recht authentisch und dennoch wähnt man sich, unterstützt von den etwas glatten Bildern, stets auch, gleich von Beginn weg, in einem auf cool getrimmten Film (am ehesten vergleichbar mit der Fokussierung auf superlässige Helden-/Schauspieler aus amerikanischen Gangsterfilmen wie Scarface, o.ä.): eine faszinierende, aber nicht immer überzeugende Mischung.

Gegen Ende erhöhen sich dann die dreist geschriebenen Turbulenzen für den Jungarzt und man nimmt dem Drehbuch das alles nicht mehr so recht ab. Etwas weniger Dramatisierung und dafür etwas mehr an sozial-/psychologisch-/realistischen Vertiefungen hätten dem Film sicher auch nicht geschadet. Das Ende, eine Art Taxi Driver light, kommt auch einen Tick zu abseitig daher, andererseits gefällt der Verzicht auf jegliche Versöhnlichkeiten, was auch für den Handlungsstrang rund um Marcs love interest gilt. Das überrascht schon und zeigt, dass hier ein eigenwilliger Film vorliegt, der gleichzeitig cool, frisch (manchmal einen Tick zu glatt) wirkt und doch gerade auch das Dreckige, das Unbequeme sucht, ohne sich darin zu suhlen oder ein wenig wagemutiges Mainstream-Publikum auszuschließen. Durchaus positiv ist dieses Projekt also zu bewerten, wenn auch nicht so begeisternd, wie man sich den Film nach Interviews und Berichten im Vorfeld erhofft hatte.

2. August 2010

Idiots and Angels (Bill Plympton) 9,05




Ein neuer Tag beginnt, ein süßes Vögelchen lässt sich am Fensterbrett nieder und zwitschert…da sehen wir einen Mann im Bett liegen, zugedeckt, aber mit einer mächtigen Morgenlatte: Willkommen in der schrägen, immer enorm sexualisierten Welt des Bill Plympton! Doch halt, der Wecker klingelt und der Ständer unter der Decke entpuptt sich als eben dieser Wecker. Der Tag hat begonnen, der Irrsinn nimmt nun langsam seinen Lauf: Idioten und Engel werden also nun für die nächsten 75 Minuten die Szenerie beherrschen…

Plymptons Filme (meist kurz, manchmal lang) sind generell einzigartig. Wilder Surrealismus, Gewalt und Sex, bizarre Lebensformen oder einfach nur böswillige, ausschließlich triebgesteuerte Menschen kennzeichnen die mir bekannten Arbeiten, die enorm einfallsreich gezeichnet und großartig animiert sind. Idiots and Angels könnte hier so etwas wie der vorläufige Höhepunkt, das „Meisterwerk“ Plymptons sein: Eine im Vergleich etwa zu einer früheren Arbeit, dem wahnsinnig überdrehten, aber auf Dauer auch etwas übermüdenden Mutant Aliens, recht einfache Geschichte, weitgehend sogar ein intimes Kammerspiel (in einer Bar)…Plympton fährt seine überbordende Fantasie hier vergleichsweise sogar etwas zurück, um ein kleines Schauermärchen, einen lebendig werdenden grotesken Alptraum zu erzählen, der sich zu einer Art LSD-Version eines Körper-Metamorphosen-Cronenberg Films entwickelt.

Die hintersinnige Geschichte um einen Ekelbrocken, dem Engelsflügel wachsen und seine Mitmenschen, die ihn teils böse aufziehen und teils böse ausnützen wollen, mündet in einen immer heftiger werdenden Sog des Wahnsinns, der enorm beeindruckend gerät, so beeindruckend, wie sonst kaum ein Film in letzter Zeit. Besonders toll an einem Plympton-Film wie diesem ist, dass er keine Kompromisse eingeht. Der Meister lässt seiner Fantasie freien Lauf, schert sich nicht einmal ansatzweise um Konventionen oder Kompromisse und zaubert mit seinem Team einen umwerfend verstörenden Alptraum hin, der leider nicht massen(kino)tauglich scheint, aber schlicht großartig abgründige (für viele wohl eher „abartige“) Filmkunst darstellt.