31. Mai 2010

L'homme qui marche (Aurélia Georges) 8,24




Man kennt die traurig-faszinierenden Geschichten von großartigen Schriftstellern (von Keats bis Dick, usw..), die ihr Leben in Armut verbringen, ohne ihre Werke gewinnbringend verkaufen zu können. Der gehende Mann von Madame Georges befasst sich mit einem auch postum weniger bekannten und relevanten Autor, der ebenfalls hart mit der Literaturszene, aber auch sich selbst zu kämpfen hat. Überhaupt nur ein Werk hat er zustande gebracht und danach offenbar nichts Verlegenswertes mehr zu Papier bringen können.

Die Hauptperson in Georges leisem, enorm subtilen Abstiegsporträt ist ein sonderlicher Einzelgänger, ein Mann, offensichtlich mit einer radikalen künstlerischen Vision, die sein eigenes Benehmen ganzheitlich einschließt, ein Mann quasi ohne Freunde und Familie. Einige Bekanntschaften und Kurzfreundschaften wird er im Verlauf seines Lebens machen, doch tiefere Beziehungen kann (und will?) er nicht eingehen. Seine Lethargie und Sturheit (? – Georges lässt einen über die Motive dieses verschlossenen Menschen rätseln) bedingen seinen langsamen, aber stetigen Verfall. Wenn so eine Person irgendwann verschwindet, nimmt niemand davon Notiz, weil keiner ihn richtig kennt oder vermisst. Solche Lebensgeschichten sind wohl die traurigsten überhaupt und tagtäglich passiert das psychisch Erkrankenden, Drogenkranken, Obdachlosen vor unseren Augen…

Der relativ kurze, schön reduzierte Film hat bei mir genau deshalb erst nach dem Abspann so richtig gezündet. Während der Sichtung noch kaum richtig begeistert, verfolgt mich die Geschichte dieses Mannes (sicher auch nochmal unterstützt durch die Einblendung zum Ende); seine faszinierende, mysteriös bleibende Persönlichkeit und seine traurige Geschichte: ein ausgesprochen tolles, künstlerisch glasklar konzipiertes und inszeniertes Werk.

28. Mai 2010

Teza (Haile Gerima) 8,33




Dieses sehr persönlich gefärbte Leidensepos (der Titel bedeutet Morgentau) um den Äthiopier Anberber, der in den 70ern motiviert nach Deutschland geht, um Medizin zu studieren und anschließend im eigenen Land die Krankheiten heilen zu können, beginnt zunächst in der filmischen „Gegenwart“ (1990) mit der Rückkehr des Hauptcharakters in seine Heimat.

Die fiebrige, unheimlich dichte Inszenierung u.a. der traumatisch bedingten Empfindungen und Träume Anberbers zu Beginn erinnert gleich mal an Jodorowskys wahnwitzigen Stil von The Holy Mountain, also Gerima nimmt den Zuschauer sofort mit enormer filmischer Kraft und einer den Sinn für Nachvollziehbarkeit etwas überfordernden, aber faszinierenden Montage gefangen. Der komplex erzählte und bebilderte Film wird mit der Zeit aber schon ruhiger und konventioneller. Die bewegte, ja irrsinnige Geschichte Anberbers wird erzählt: seine Erfahrungen sind stellvertretend für die schlimmen Erfahrungen vieler Afrikaner, sowohl zuhause, in der sinnlosen Kriegshölle, als auch im vielversprechenden, sich aber ebenfalls, nämlich in Gestalt von rassistisch motivierter Gewalt, häßlich zeigenden Europa. In einer der stärksten Szenen, als der aufrichtige Anberber der unerbittlichen Korruptionsmaschinerie der Kontrarevolutionäre letztlich doch nachgeben muß, erbricht er kurz darauf (sehr intensiv bebildert) und all die Frustration, der Ekel über diese katastrophalen Zustände und Vorgehensweisen manifestieren sich hier eindrucksvoll.

Am Ende, in der Gegenwart, zurück in der Heimat, kündigen sich bereits neuer Irrsinn, neue Gewaltandrohungen und -ausbrüche an, doch auch ein wenig Hoffnung schimmert durch: Der Arzt als Lehrer – und die zukünftige Generation, die vielleicht ja doch irgendwann einmal ohne Mord und Gewalt leben kann. Kämpferisch endet der Film – ohne sich naiven Illusionen hinzugeben.

26. Mai 2010

An Education (Lone Scherfig) 8,35




Dieser in den 60ern angesiedelte Entwicklungsfilm um die 16-jährige Jenny, die durch den vermutlich mehr als doppelt so alten David plötzlich aus ihrem langweiligen Schülerleben (Studium in Aussicht) gerissen und sodann in die feine Gesellschaft mondäner Kunstliebhaber (sowie auch, allerdings sehr behutsam, in die Liebe!) eingeführt wird, bezieht seinen Reiz aus den ambivalenten Figuren und ebensolchen Fragen: ist denn für ein (gehobene) Mittelschichts-Mädchen ein eher langweiliges, normales Leben inklusive Studium erstrebenswert oder doch dieser coole, luxuriöse Lebensstil an der Seite eines Gentleman-Gauners (a la französischer 60er Film-Vorbilder wie Belmondo und co), die Liebe zu den schönen Künsten, ein laissez faire oder let things happen - in den Tag hineinleben die bessere, die lebenswertere Alternative bzw. nicht genauso eine wertvolle "Erziehung"? (eigentlich grenzgenial dieser ironische Titel)

Wenn die aufgeweckte und doch so sensible, unerfahrene, verletzliche Jenny etwa mit ihrer engagierten Lehrerin diskutiert, welchen Weg sie bevorzugt, dann kann man bis zuletzt selbst zerrissen sein und hin und her schwanken zwischen den Möglichkeiten. Denn ein großes Plus des Films ist, dass er enorm feinfühlig aus Jennys kindlicher Perspektive erzählt ist und man sich auch als Erwachsener wieder gut in die Jugend(zeit) hineinversetzen kann. Was für eine Wahl das Mädchen treffen wird, ist auch lange gar nicht wirklich abschätzbar.

Die moralisch höchst fragwürdige Liasion der beiden und Jennys Leben an der Seite des mysteriös-verwegen und oft nicht gerade koscher wirkenden David (hallo, ihr fehl-fokussierten, offenbar selbst in rassistischen Kategorien denkenden Antisemitismus!-Einwerfer) wird von Hornby und Scherfig stets respektvoll behandelt und nicht verurteilt. Der ältere Liebhaber wird aber auch nie gänzlich unsympathisch oder zu einer gefährlichen Figur (eher zu einer tragischen).

Man kann ohnehin schon recht bald fühlen, dass dies hier trotz allem ein eher positiver Film ist. Dass bei David gegen Ende immer mehr Schattenseiten zum Vorschein kommen, die Geschichte im Grunde genommen noch einmal „glimpflich ausgeht“ (jedoch mit komplexeren Untertönen), und dass das Happy End des Films für meinen Geschmack noch einen Tick zu weit geht, all das ist leicht kritikwürdig und ließ den schönen Film für mich noch minimal unzufriedenstellend enden.

Andererseits wünscht man dieser jungen Frau doch nichts anderes, als dass ihr Leben gut verläuft. Die etwas konservative Botschaft, die Hornby und Scherfig (Italienisch für Anfänger!) hier vermitteln, ist schließlich auch genau das, was diesen Film, gerade in der heutigen Zeit der angeblich so gestiegenen Zahl an Problemkindern und bildungsverdrossenen Jugendlichen so toll werden lässt: An Education wirkt wie ein subtiler Verwandter von Dead Poets Society, diesem Kultfilm für die Generation davor: junge Menschen sensibel machen für die Fragen und Schwierigkeiten des Erwachsen werdens, Bildung als unschätzbar wertvolle Investition für eine vielleicht ja dann ebenso aufregende Zukunft betrachten. Erfreulich ist das und ordentlich unterhaltsam und routiniert, wenn auch vielleicht dann doch einen Tick zu brav serviert.

24. Mai 2010

Bahag Kings (Khavn) 7,20




Schräge
bis nervtötende Musik. Experimentelle Avantgarde. Bahag - Lendenschurz!! Könige - "Herumtreiber" auf der Suche nach WALA. Unter - Über - Zwischen - Titel. Philosophisch, gesellschaftskritisch, dadaistisch, blödelnd. Film/zer/Fall nicht nur auf Youtube. Un-schauBAR? Stil:Wechsel trhekrev nöhcs ZnAG.

Khavn, dieser Tausendsassa und sympathische Untergrundfilmer von den Philippinen, ist hier auf einem echt schrägen Trip. Der Film ist, wie einige Werke des Regisseurs, darunter auch der faszinierende Pugot, übrigens ganz einfach auf Youtube zu sehen.

Soll man es überhaupt erwähnen oder nicht? Dass nach vielen mühsamen, anstrengenden, wahnsinnigen, aber im Grunde gerade aufgrund des völlig enthemmten Stilgewitters leider recht belanglos erscheinenden Minuten dieser Film, der doch mehr und mehr auf die Nerven geht und kaum bedeutsam scheint, plötzlich einen so radikalen Stilbruch begeht, den man gesehen haben sollte; ein durchaus genialer Schachzug, beruhend auf einem "Glücksfall" während des Drehs, der eine in diesen comedy film with values unvermittelt hereinbrechende, spontane Liebeserklärung an das Undergroundfilmen an sich darstellt, an das Unerwartete, das Unvorhersehbare. We are artist! Alles ist möglich in Filmen. Khavn beweist dies beileibe nicht als Erster, aber auf höchstwahrscheinlich noch nie gesehene und derart lustvoll durchgezogene Weise. Die Bahag Kings schlagen einen Weg ein, der auf deutlich höhere Plateaus führt als zu einem hoffnungslos überspannten Comedy Film. Die Realität bricht herein in die Fiktion, das Drehbuch wird vom Schicksal (um)geschrieben, Reflexionen und Diskussionen treten an die Stelle von experimentellem Klamauk, Nüchternheit und Realismus ersetzen digitale und musikalische Spielereien, der Zuschauer wird vom leicht genervten zum völlig gebannten Beobachter.

Nun passiert in Bahag Kings nichts die Filmwelt zutiefst Erschütterndes oder Bewegendes und Khavns Arbeit bleibt trotz des kleinen, verschmitzten Geniestreichs - eines grenzüberschreitenden "Twists" - unterm Strich nur bedingt anschauenswert, aber was Herr de la Cruz aus seinem beim Dreh gesammelten Material im Rückblick kreiert hat, kann jemandem, der sich für den Prozess eines Filmdrehs, für Künstler und deren Interaktionen mit der Bevölkerung, deren Wirkung auf Skeptiker und Gegner von Avantgarde u.ä. interessiert, schon ein anhaltendes Lächeln ins Gesicht zaubern. Bahag! Bahag!

Reykjavik-Rotterdam (Oskar Jonasson) 5,25

Belangloser Thriller

21. Mai 2010

Away we go (Sam Mendes) 7,95




Das Roadmovie um zwei Mittdreißiger-Eltern in spe nervt tendenziell durch die Vielzahl extra-schräger Charaktere eine Zeit lang etwas, gefällt aber letztlich durch die gefühlvolle Schilderung dieser Reise, der Suche nach einem geeigneten Zuhause des etwas verunsicherten Pärchens.

Zu sich selbst finden, sich von der Lebensweise anderer abheben, in die Rolle hineinwachsen – gemeinsam: von all dem erzählt Mendes hier leicht sentimental, mit schön melancholisch-gefühlvollen Songs unterlegt. Der stets auf hohem Niveau arbeitende Regisseur legt damit auch gleich einen Gegenentwurf zu seiner bitteren Revolutionary Road-Verfilmung vor; hier hat Wärme viel Platz, generell unterscheiden sich die beiden direkt aufeinander folgenden Werke enorm, obwohl sie beide von einem jungen Ehepaar erzählen. Zyniker könnten nun einwerfen, die Freundlichkeit und Harmonie von Away we go im Unterschied zur unterkühlten Ehehölle von Revolutionary Road rührt daher, dass die Kinder noch gar nicht da sind und die Liebe noch vergleichsweise frisch ist. Oder aber Burt und Verona sind bei weitem nicht so selbst-destruktiv und passen einfach richtig zusammen, im Gegensatz zu Frank und April: man wünscht es ihnen am Ende ihrer Reise von Herzen.

20. Mai 2010

Yuki & Nina (Hippolyte Girardot/Nobuhiro Suwa) 7,48




Die 9-jährige Yuki, Kind eines Franzosen und einer Japanerin, erfährt von ihrer Mutter von der Trennung ihrer Eltern und dass sie nach Japan ziehen soll. Traurig und phlegmatisch wird die kleine Yuki von da an bleiben, verunsichert und vor allem ungewillt, mit ihrer Mutter ihr gewohntes Leben zu verlassen. Nur die Freundschaft zu Nina gibt ihr immer wieder Freude (und auch Ablenkung)…

Einen hervorragenden, psychologisch fein nuancierten Film über ein Scheidungskind hatte in Cannes bereits zwei Jahre vor dem Männer-Duo Girardot und Suwa Frau Mia Hansen-Love mit Tout est pardonné vorgelegt. Yuki & Nina ist in manchen Dingen vergleichbar, etwa bei der Sensibilität für die Kindersorgen; er ist sogar noch mehr und sehr konsequent (liebevoll) aus der Kindesperspektive erzählt – bzw. zu erspüren.

Die zweite, etwas seltsame (oder: rätselhafte, oder: märchenhafte) Hälfte des Films, in der Suwa die Regie von Girardot übernimmt, mutet am ehesten an wie eine Realversion von Passagen aus Miyazaki-Filmen wie Mein Nachbar Totoro oder Chihiros Reise (aus der staunenden Kinderperspektive, dafür ohne irgendwelche Fantasyfiguren): ein sehr interessanter Verlauf, dennoch fehlt dem durchgehend angenehm kindlichen Film, gerade im Vergleich mit den erwähnten Werken, irgendwie der letzte Punch, die Bedeutung: sanftes Dahinplätschern auf dem Fluß einer schwierigen und dennoch nicht unschönen Kindheit.

19. Mai 2010

So glücklich war ich noch nie (Alexander Adolph) 7,82




Das Thema ist das Gleiche wie im etwas später entstandenen Wedel: Ein Trickbetrüger, der die Reichen geschickt um den Finger wickelt und übers Ohr haut. Doch Alexander Adolph ist an wesentlich intimeren Dingen interessiert als Dieter Wedel. Sein Gauner, dessen reales Vorbild mit jenem aus Gier identisch sein könnte, ist privat kein extrovertierter Lebemann, sondern ein psychisch kranker, im Grunde eigentlich herzensguter armer Teufel, der sich nach Glück und Liebe sehnt und einfach nicht anders kann als seine Gaunereien immer wieder abzuziehen.

Und zu träumen. Vom Glück. Striesow und Uhl veredeln diesen „kleinen Film“, der gegen Ende Größe beweist: mit dem angeschnittenen Diskurs, ob man einem geliebten Menschen hilft, indem man ihn einer gerechten Strafe ausliefert, und vor allem in der finalen Szene, dem subtil gefilmten und gespielten Zusammenbruch des Kartenhauses.

Frank betont immer wieder die Traurigkeit der Prostituierten Tanja – als Zeichen von Schönheit. Ähnliches kann man auch über diesen Film sagen.

18. Mai 2010

Überall nur nicht hier (Tamara Milosevic) 7,30




Das Porträt von drei unterschiedlichen Menschen im bosnischen Srebrenica 15 Jahre nach dem schrecklichen Männer-Massenmord überzeugt durch die interessanten Charaktere: Der stets leicht überfordert wirkende, relativ junge moslemische Bürgermeister Malkic und die 18jährige selbstbewusste und ziemlich rüde Samira. Wie die beiden in ihren Lebenssituationen, Diskussionen und Monologen begleitet werden, wirkt zwar manchmal etwas erzwungen, aber im Endeffekt doch wieder sehr authentisch. Die Einblicke reichen dabei von enorm kurios bis traurig-niederschmetternd und spiegeln den Alltag eines Lokalpolitikers in einer ehemaligen Kriegsregion und einer armen jungen Frau ohne Zukunftsperspektiven offensichtlich gut wider. Etwas in den Hintergrund geraten dagegen die Passagen mit dem grundsätzlich auch sehr interessanten serbischen Pfarrer, dessen wahres Gesicht zwischen versuchter Völkervermittlung und deutlich durchscheinendem "Nationalstolz" nur schwer zu ergründen scheint.

17. Mai 2010

Kick-Ass (Matthew Vaughn) 8,45




Das Schöne an dieser zugleich auf cool-zynisch getrimmten wie auch kindlich-verspielten Comicverfilmung ist: Matthew Vaughn hat Talent und Eier. Eine eminent wichtige Kombination, die man für einen richtig gelungenen, erfreulicherweise erstaunlich kompromisslosen und mindestens einmal, nämlich in der und um die atemberaubende Live-Hinrichtungs-Sequenz, gar höchst unangenehmen Film braucht.

Kick-Ass ließ mich zunächst noch eher skeptisch bleiben, gerade weil die übertriebene Gewalt in Kombination mit Nerd-Humor und Kindern als Gewaltausüber und –opfer erstmal zu gewollt provokant wirkt. Doch die Klasse von Vaughns kreativem Film kommt dann relativ bald und immer deutlicher zum Vorschein: seien es die köstlich aberwitzigen Figuren (D'Amico! und sein Sohn!!) oder eben die streckenweise hervorragende (Action-)Inszenierung, die diesen Un- und Irrsinn trotz der Vorbilder, trotz Watchmen und trotz Kill Bill und trotz Spider-Man verdammt sehenswert und zu einem sehr lässigen Unterhaltungsspektakel mit mal düsteren, mal geistreichen Untertönen machen.

14. Mai 2010

Koran Kinder (Shaheen Dill-Riaz) 8,73




Sehr persönlich erzählte Analyse islamischer Erziehung in Bangladesch

Der Filmemacher durfte als Erster überhaupt in einer Madra filmen, einer harten Koranschule, die vor allem von den Armen, die sich eine staatliche Schule nicht leisten können, frequentiert wird. Oder von Hardcore Gläubigen gewählt wird, die für ihre Kinder nur die strikt religiöse, anti-intellektuelle, anti-westliche Bildung wollen (auch, damit sie selbst es im Leben nach dem Tod möglichst gut haben).

Dill-Riaz fängt beeindruckend-unangenehme Bilder des eintönigen Kinderdrills ein, interviewt u.a. seine liberalen Eltern und Gelehrte, aber auch Eltern von Madra-Schülern oder Ex-Schüler und Lehrer dieser befremdlichen Einrichtungen und kommentiert die Situationen hie und da auch selbst.

In Zeiten, in denen die blinde Islamgläubigkeit auch in der westlichen Welt immer mehr zu einem Reizthema mutiert, ist Dill-Riaz‘ erhellender, spannender, kurzweiliger und gleichzeitig intelligenter und nachdenklicher Film enorm interessant und ein echtes Highlight im dokumentarischen Sektor.

13. Mai 2010

36 vues du Pic Saint Loup (Jacques Rivette) 5,48




Es gibt Filmemacher, die man selbst als alles-sehender Cinephiler irgendwie immer umgangen hat, sei es, weil einen die Kombination aus Filmlänge und Inhaltsangaben kaum angefixt hat oder…weil man es selber nicht so genau weiß. Jacques Rivette ist so jemand, der bei mir so ein völlig unbeschriebenes Blatt ist. Nur eines seiner Werke sah ich bis dahin: Noroît (Nordwestwind), aber der nervte und langweilte mich ganz gewaltig. Dennoch gilt Rivette als ein ganz Großer, also möchte man verständlicherweise schon noch mehr von ihm sehen.

Mit seinem neuesten, eventuell gar letzten Film, noch dazu einem vergleichsweise erstaunlich kurzen, kam nun die Zeit, Rivette wieder eine Chance zu geben. Doch recht bald ergriff mich schon wieder so ein Gefühl des mühsamen Ansehens, diese geschleppt-betuliche, artifizielle Inszenierung macht es schon schwierig, sich richtig in den Film einzufinden, man könnte fast von Altersstarre oder Erstarrtheit sprechen.

Dennoch, die Agenda steht immer über dem Stil, also was macht Rivette mit seinem Film eigentlich? Er erzählt von einem Trauma seiner weiblichen Hauptperson und einem männlichen Fremden, der aus dem Nichts auftaucht und schließlich versucht, dieses Trauma zu beenden. Das hat etwas Sympathisches, aber irgendwie auch seltsam pseudo-(filmisch-)Psychotherapeutisches.

Rein auf mich projiziert hat 36 Ansichten des Pic Saint Loup auch das Problem im Zirkus- und Clown Milieu zu spielen, eine mir nicht fremder und wurschter sein könnende Welt. Dennoch waren die Clown Szenen ziemlich witzig und wie Rivette den Zuschauer oft im Unklaren über Auftritt oder Lebensrealität der Charaktere lässt, kündet schon deutlich von der Meisterschaft eines Künstlers. Auch der persönliche Einschlag von Abschied und Seelenfrieden am Ende hinterlässt einen schönen Eindruck, aber vielleicht erreicht das eher langjährige Rivette-Fans und Begleiter als einen völlig Unbeteiligten, der den Film bloß als einen unter Tausenden sieht.

Jedenfalls verließ ich den Film leider ziemlich unberührt, auch wenn ich bis hierhin versuche, Positives rauszufiltern, rauszukitzeln. Aber es fällt ziemlich schwer, wenn man an die oft mühsamen Minuten im Kinosessel zurückdenkt. Was am Ende über bleibt, kann den nicht vorhandenen Sog dieses eher eingerosteten Altherrenkinos eben schwer wettmachen.

12. Mai 2010

Greenberg (Noah Baumbach) 8,10




Bereits der Beginn ist ungewöhnlich: Im Vorspann des Films Greenberg, der also nach seinem männlichen Hauptcharakter benannt ist, wird statt dem Titel(anti)helden die weibliche Protagonistin eingeführt. Ben Stiller, der die Hauptrolle spielt, fungiert hier auch später kaum als Identifikationsperson oder Sympathieträger für das Publikum, aber seine Rolle ist auch keine typische „beliebter Komiker spielt total anti, um sich schauspielerisch zu beweisen“-Masche.

Roger Greenberg ist nicht mehr und nicht weniger als ein enorm schwieriger Typ und Noah Baumbach, u.a. Schöpfer des traumhaften Kinderdramas The Squid and the Whale oder Drehbuchautors von Wes Andersons The Life Aquatic with Steve Zissou, gibt ihm in seinem Film viel Platz zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, seiner Marotten, die großteils eher traurig als nachdrücklich komisch wirken. Dies gilt auch für die zynischen Sprüche, die einen genialen Ton zwischen erhellendem Sarkasmus und tiefer Bitterkeit treffen. Da Greenberg einerseits ein armer Hund, andererseits eben dieser zynische Misanthrop ist, machen es Baumbach und Co-Autorin Jennifer Jason Leigh dem Zuschauer im absolut positiven Sinne nicht gerade leicht; es ist zwar schon öfter lustig im konventionellen Sinne, die meiste Zeit aber bleibt Stillers Charakter befremdlich und das Introvertiert-Gehemmte bestimmt eher das Geschehen.

Baumbach vermeidet auch große dramatische Zuspitzungen und versagt seinen vergangenheitsgeschädigten Protagonisten allzu derbe, unrealistisch wirkende Entwicklungen. Stattdessen rücken neben vielen unangenehmen Situationen, Gesprächen, Handlungen die kleinen Fortschritte und das Unspektakuläre am Leben und der Liebe zart in den Mittelpunkt, und ohne dass man es zunächst allzu bewusst wahrnehmen kann, wird Greenberg immer mehr und mehr zu einem richtig erfreulichen, tollen Film.

11. Mai 2010

En Mand kommer hjem (Thomas Vinterberg) 6,28




Vinterberg erzählt hier ein helles Liebes- und Familienversöhnungsmärchen, ein eher heiter und optimistisch angelegtes Drama mit durchaus ernsten Hintergründen und hin und wieder wird auch die realistisch anmutende Seelenpein der Charaktere, für die das dänische Kino im letzten Jahrzehnt so berühmt und geschätzt wurde, angedeutet. Aber diesmal soll es in erster Linie ein Wohlfühlfilm sein, der allerdings seine ernsthaften Wurzeln nicht verleugnet. Dass Vinterberg aber auch ein ordentlicher Ironiker zu sein scheint, zeigt unter anderem eine Szene gegen Ende, die doch recht offensiv an die intensive Vater-Sohn Konfrontation in Vinterbergs grandiosem Dogma-Debüt Festen erinnert.

Ist denn Ein Mann kommt nach Hause nun ein guter Film? Nun ja, er ist ganz nett, aber nicht viel mehr, unbedingt empfehlen braucht man dieses Werk nicht. Zudem nerven manche Einlagen wie die betont "cool-witzige" Küchencrew doch ziemlich. Aber Vinterbergs Inszenierung ist sehr gekonnt, hat Ideen, gute Bilder und sympathische Schauspieler. Selbst für Dänen-Fans oder Dogma-Family-Komplettisten ist dieser anscheinend auch überall ziemlich untergegangene Film dennoch mehr ein kann als ein muß.

10. Mai 2010

Dutschke (Stefan Krohmer) 7,31




Das Besondere an diesem Biopic-Mix aus gespielten Szenen und Befragungen von Weggefährten der Hauptperson ist, dass sich Krohmer und Nocke selbst hinterfragen und durch die divergierenden Ansichten und krassen Meinungsverschiedenheiten ihrer Interviewpartner die Ambivalenz einer Filmbiographie - eines vor allem in den letzten Jahren ja höchst publikumstauglichen Genres - betonen.

Die gespielten Filmszenen sind okay, aber nichts Aufregendes; Dutschke selbst ist natürlich eine interessante Person und hat eine ebensolche Vita, dennoch gibt es mittlerweile ja unzählige dieser Geschichten von faszinierenden Persönlichkeiten und man hat ja alle diese Elemente vom charismatischen Anführer, den politischen Kämpfen, den persönlichen Schicksalsschlägen, dem privaten Ausgleich schon irgendwie mal gesehen...

Da ist es fast schade, dass den Kommentierenden nicht ganz soviel Platz eingeräumt wurde, denn diese offen dargelegten Streitigkeiten und Hahnenkämpfe von Dutschkes engsten Vertrauten oder die Analysen von Historikern, auch die offen gestellten Fragen der Interviewer (so quasi die Vorbereitung des Films in die finale Version des Films eingebaut) lassen das TV-Projekt Dutschke durchaus sehenswert werden.

7. Mai 2010

Joheunnom Nabbeunnom Isanghannom (Kim Ji-Woon) 7,13




Der Titel The Good, The Bad, The Weird stellt es bereits unmissverständlich klar: Dieser Film ist eine Neuinterpretation der Grundstukturen von Sergio Leones Überwestern Il buono, il brutto, il cattivo aka The Good, The Bad and The Ugly. Das ist natürlich zuallererst einmal eine sehr heikle Geschichte, denn welchen Sinn hat es, kann man berechtigterweise fragen, einen derartigen Hammerfilm überhaupt nachzuahmen.

Doch, und das ist die andere Seite, der Western von Kim Ji-Woon (der vor ein paar Jahren mit A Tale of two Sisters möglicherweise das letzte Meisterwerk der Asien-Horror-Welle gedreht und sich dabei als enorm starker Inszenator vorgestellt hatte) ist zum Glück eigenständig genug, um mit seiner turbulenten Hetzjagd und seinen wilden, sehr dynamischen, ausufernden Actionsequenzen, in schön staubiger und dreckiger Szenerie, schlicht und ergreifend gehörigen Spaß zu machen. Natürlich ist Leones Vorbild in jeder Hinsicht meilenweit voraus und Kims Film ist in keiner Weise auch nur irgendwie bedeutsam, bleibt im Grunde recht konventionell, aber er ist rasant und gekonnt (wenn auch nicht auffallend außergewöhnlich) inszeniert und ziemlich unterhaltsam.

Wenn man The Good, The Bad, The Weird etwa mit Miikes unsäglich nervigem Sukiyaki Western Django vergleicht, kann man Kim Ji-Woon nur gratulieren; er hat es nämlich begriffen, wie man auch aus einer postmodernen Augenzwinkerei noch einen für sich gelungenen Film zu Wege bringen kann. Auch der Coolness Faktor (den Miike viel zu sehr übertrieben hat) ist hier nicht zu extrem, die drei Typen sind angenehm lässig (der Böse vielleicht einen Tick zu farblos, der Weirde dagegen als skurrile Type, aber eben nicht zu übertrieben als Depp dar- und bloßgestellt).

Und Kims Film hat schon immer wieder respektable Schmankerln zu bieten, besonders im Gedächtnis bleibt wohl die irre Szene mit dem Tiefseetaucherhelm, die den grundsätzlichen Stil dieses koreanischen Westerns ja ganz gut beschreibt: schön kreativ; an der Grenze zum Nonsens, aber letztlich nicht klamottig-doof; die Rasanz, das Unterhaltungs- und Spannungspotential der bekannt-bewährten Geschichte stets in den Vordergrund stellend. So kann man auch einem Reimagining-Skeptiker zwei Stunden lang eine kleine Freude bereiten.

5. Mai 2010

Zertifikat Deutsch (Karin Jurschick) 8,12




Eine Gruppe von Ausländern, die den seit 2005 staatlich vorgeschriebenen Deutschtest bestehen muß, um im Land bleiben (und arbeiten) zu dürfen. Manche sind aber auch freiwillig hier, um sich besser zu "integrieren". Und beim ersten Mal ist dieser Test ohnehin kaum zu schaffen, das arbeitet Jurschick im Laufe des Films gut heraus.

Neben den Einsichten in die Deutschstunden werden ein paar Kursteilnehmer privat vorgestellt und man bekommt hierdurch eine leise Ahnung davon, wie schwierig es sein muß, oft getrennt von der Familie, im Bereich der Armutsgrenze, in einem fremden Land zu arbeiten und zu leben (was allerdings natürlich keine exklusive Qualität dieses Films darstellt). Und dann eben auch noch zusätzlich stundenlang für diesen Test zu büffeln, mit seinen sprachlich teils absurd überformulierten Fragen, die selbst für perfekt sprechende Einheimische schwer zu beantworten sind.

Das Ende des Films, die Abschlußprüfung, fällt dann auch dementsprechend ernüchternd aus. Doch auch die Hoffnung, der Optimismus, das Positive bei diesen bewundernswerten Menschen schimmert stets durch. Jurschicks Film ist letztlich ein brandaktueller, erhellender Einblick in das Dilemma eines "Einwanderungsstaates" und der schwierigen Gratwanderung zwischen Regeln, Vorschriften und deren Praxistauglichkeit.

4. Mai 2010

Okuribito (Yojiro Takita) 7,37




Der Gewinner des letztjährigen Auslandsoscars, dessen Originaltitel eine Art Kunstwort aus Mensch und verabschieden/geleiten zu sein scheint, entpuppt sich nicht als Überfilm, aber als ein gekonnt ruhig erzähltes und inszeniertes, melancholisches, aber auch mit einigem Humor angereichertes Drama um einen Musiker, der sich ziemlich unfreiwillig beruflich zum professionellen Leichenaufbahrungs-Zeremonienassistent (und schließlich -meister) umorientiert - ein ungewöhnlicher und scheinbar wenig prestigeträchtiger Job, der einigen Bekannten missfällt und zum Überdruß auch seine etwas konservative Freundin leider richtig anwidert...

Nokan - Kunst des Ausklangs (Departures) geht visuell und akustisch sehr direkt an die Emotionalität des Zuschauers, begibt sich aber dabei nur selten in Kitschgefahr (eigentlich nur einmal, das dafür aber richtig fett: Celloposing vor Hochglanzkulisse) und erzählt unter anderem davon, einen neuen Weg einzuschlagen; in einen Beruf, in ein Leben richtig hineinzuwachsen. Auch die sympathisch-schrulligen Nebenfiguren und ihre Probleme fügen sich gut ein. Nur gegen Ende ergeben sich ein paar minimale Längen und Redundanzen und letztendlich gelang Takita kein richtig großer, auszeichnungswürdiger Wurf, aber ein schöner, warmer, oft sehr sensibler Film ist ja auch für sich Einiges wert.